Er weiß nicht, was er tut

US-Präsident George Bush hat in seiner Rede an die Nation große Worte vermieden – und macht weiter wie bisher. So beschädigt er nachhaltig die amerikanische Demokratie

Bush beharrt darauf, dass nicht „Politiker“, sondern „militärische Führer“ Entscheidungen zu Irak treffen

Vor einiger Zeit lud der protestantische Denker Jim Wallis all jene ein, die seine Abneigung gegen Ausbeutung, soziale Verwahrlosung und Krieg teilten. Sie sollten sich in seinem Haus versammeln, um des Präsidenten Rede an die Nation zu lauschen und über sie zu reflektieren.

Der Pfarrer nahm eine alte Tradition für sich in Anspruch: die freiwillige Versammlung als ursprüngliche politische Kraft. Mit Blick auf heute hat diese Versammlung aber noch eine andere Dimension: Im Stich gelassen von ihren politischen Führern, Demokraten wie Republikanern gleichermaßen, bleiben vielen Bürgern für die Reflexion nur noch der Allmächtige und sie selbst. Selbst säkulare Verzweiflung ist in Bushs Amerika eine theologische Sache geworden.

So lauschten die Amerikaner Präsident Bushs jüngster Rede an die Nation distanziert und mit wenig Hoffnung. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat nicht erst seit gestern kein Vertrauen mehr zu Bush, sei es wegen des Debakels im Irak oder der schlechten Wirtschaftslage. Die Berater des Präsidenten und die Republikaner im Kongress sind angesichts der Zwischenwahlen im November besorgt über die Stimmung im Land. Die Demokraten könnten, ja müssten sich nun profilieren, aber auch sie bieten keine schlüssigen Alternativen. Unter diesen Umständen hat sich George W. Bush entschieden, politisches Terrain nicht aufzugeben. Seine Ansprache appellierte an die weit verbreitete Angst, Ignoranz und Selbstgerechtigkeit, um sein „Weiter so“ zu rechtfertigen.

Zudem bestand er auf der Notwendigkeit, den „radikalen Islam“ zu bekämpfen. Die amerikanische Besetzung des Irak, die diese Bewegung erst stark gemacht hat, wird nun wieder damit legitimiert, sie auszurotten. Hamas, und durch Hamas die ganze palästinensische Bevölkerung, forderte er auf, den Widerstand zu beenden. Er droht dem Iran, mit einer Rhetorik, die an König Lear erinnert – „Ich soll diese Dinge tun, ich weiß nicht, was sie sind.“

Zwei autoritäre und korrupte Regime, Ägypten und Saudi-Arabien, werden mit freundlichen Worten aufgefordert, weiter den Weg der Demokratisierung zu beschreiten – doch nur die Propagandisten des US-Imperiums glauben, dass sie diesen Pfad gehen. Pakistan und die zentralasiatischen US-Alliierten werden erst gar nicht erwähnt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelten als Heilmittel für den Nahen Osten, doch die Erblasten von Imperialismus und israelischer Besatzung verschweigt Bush.

Und wie sieht es in der Heimat mit Demokratie und Recht aus? Sie sind ernsthaft in Gefahr – durch den Präsidenten. An diesem Punkt ist Bush erschreckend ehrlich und schäbig unehrlich. Er verteidigt seinen Missbrauch präsidialer Macht beim Abhören amerikanischer Bürger und der willkürlichen Inhaftierung vermeintlicher Terroristen. Diese Macht, sagt er, sei ihm durch die Verfassung gegeben – eine Behauptung, die viele Rechtsgelehrte bestreiten. Bush erklärt zudem, die Bespitzelung von Bürgern habe Terroranschläge verhindert – eine Behauptung, für die er bislang keinen einzigen Beweis vorlegen kann.

Sicher, der Präsident ist hier gegenüber seinen innenpolitischen Gegnern im Vorteil. Die meisten Amerikaner glauben, dass die nationale Sicherheit Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen könnte. Die beiden neuen Richter am Obersten Gerichtshof wurden nicht zuletzt von Bush ernannt, da sie seine präsidiale Macht nicht in Frage stellen. Viele Demokraten bevorzugen bei diesen Themen leider Nachsicht statt Angriffslust. Bush dürfte also damit durchkommen, seine Kritiker im Kongress zurückzuweisen und mögliche Verfassungsklagen gegen Machtmissbrauch abzuschmettern.

Seine Kompetenz mag begrenzt sein, seine Arroganz ist es nicht. Er zögert nicht, legitime Kritiker des Irakkrieges als Defätisten zu beschimpfen und die systematische Kritik am Krieg als Verrat an den US-Streitkräften zu verleumden.

Hinzu kommt: Bush tritt in seiner Rede nicht als ein weltpolitisch Denkender auf, sondern operiert mit propagandistischen Schlagwörtern. Entsprechend beharrt Präsident Bush darauf, dass nicht „Politiker“, sondern „militärische Führer“ Entscheidungen treffen werden über den Irak. Oberbefehlshaber George W. Bush will einen unendlichen Krieg, und sollte ihm dies gelingen, dann wird unsere Republik bald an das alte Rom erinnern. Die Rechte der Bürger werden dann ersetzt durch eine prätorianische Macht, wie sie einst die Generäle der römischen Armee ausübten.

Auch die innenpolitischen Bemerkungen Bushs sind äußerst schlaff. Er lobt den „Freihandel“ und verkündete eine Reihe von Initiativen, um die Wettbewerbsfähigkeit Amerikas zu stärken. Dies könnte in der Tat erreicht werden, allerdings durch Maßnahmen, die er nicht in Erwägung zog: also ernsthafte Investitionen in Bildung und Gesundheit der normalen Bevölkerung, deren Lebensstandard kontinuierlich sinkt. Stattdessen will Bush seine Geschenke an die Wohlhabenden verstetigen durch eine grotesk ungerechte Steuersenkungspolitik.

Der Öffentlichkeit, die Demokraten und Republikaner genötigt hatte, Bushs anfängliche Pläne zur Privatisierung der Rentenversicherung zu verwerfen, schlägt der Präsident vor, eine Kommission einzurichten, die „Anspruchsberechtigungen“ prüfen soll – ein Orwell’scher Ausdruck dafür, welches Maß an sozialem Anstand unser begrenztes Wohlfahrtssystem überhaupt bieten soll.

Geschenke an die Wohlhabenden verstetigen eine ungerechte Steuer-senkungspolitik

Schließlich weist Bush „Isolationismus“ zurück, doch benutzt er die Sprache des Diktats „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Wohlweislich erwähnt er dabei nicht die Europäische Union. Sind Frankreich, Deutschland und Großbritannien bereit, uns bei einem Krieg gegen den Iran zu helfen, den Bush in Erwägung zieht?

Die Reaktionen auf Bushs Rede waren so wenig denkwürdig wie die Rede, denn er zeigt wenig Ehrgeiz, die wirklich wichtigen Probleme anzugehen. Die oppositionellen Demokraten überließen ihre offizielle Antwort dem Gouverneur von Virginia, Tim Kaine, der nicht gerade ein politisches Schwergewicht ist. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Demokraten schwach und zerstritten sind. Die amerikanische Zivilgesellschaft immerhin ist äußerst skeptisch. Daran wird Bushs Rede kaum etwas ändern.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst Washington besuchte, traf sie die außenpolitische Elite der Stadt, die sich nach wie vor absurderweise für besonders wichtig hält – obwohl sie für das aktuelle Desaster verantwortlich ist und völlig abgekoppelt vom normalen Leben im Land. Als Merkel nach Moskau flog, besuchte sie auch die dortige Opposition. Ihr Versäumnis, Vertreter der US-Bürgergesellschaft zu treffen, kann nicht gerade als Vertrauensbeweis für die amerikanische Demokratie aufgefasst werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Europäer wissen, wie widersprüchlich die amerikanische Nation dennoch ist. NORMAN BIRNBAUM

Aus dem Amerik. von Michael Streck