„Wir können den Arbeitsmarkt nicht abschotten“

Die Gewerkschafterin Catelene Passchier hält die siebenjährige Übergangsfrist für Arbeitnehmer aus Osteuropa für kontraproduktiv. So würde nur die illegale Beschäftigung vergrößert. Die Forderungen der Niederländerin: Grenzen öffnen und europäische Sozialstandards einführen

taz: Frau Passchier, Ihre Organisation, der Europäische Gewerkschaftsverband, hat sich dafür ausgesprochen, alle Beschränkungen für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus Osteuropa aufzuheben. Warum?

Catelene Passchier: Zu unserer Organisation gehören Gewerkschaften aus den alten und den neuen Mitgliedstaaten. Wir müssen die Interessen von allen vertreten. Vor der Erweiterung hatten wir unter unseren Mitgliedsorganisationen eine große Debatte, wie wir uns dazu stellen. Wir sind im Prinzip für die Erweiterung und für die freie Berufsausübung. Voraussetzung ist allerdings, dass alle Arbeitnehmer gleich behandelt werden, egal woher sie kommen. Die einzige Rechtfertigung für Übergangsfristen war, dass die Menschen fürchteten, ihre nationalen Arbeitsmärkte würden mit Konkurrenten aus Niedriglohn-Ländern überschwemmt.

Und, haben sich die Befürchtungen bewahrheitet?

Wir haben das untersucht, weil wir die Märkte so schnell wie möglich öffnen wollten. Unsere Mitgliedsorganisationen haben festgestellt, dass Übergangsfristen kontraproduktiv sind. Die Arbeitswilligen kommen dennoch ins Land und werden illegal beschäftigt, unterhalb des Tariflohns, ohne Kontrolle durch die Sozialpartner. Für Gewerkschaften ist es viel schwerer, sich für die Rechte dieser Menschen einzusetzen als für legal Beschäftigte. Wir können den Arbeitsmarkt nicht abschotten, das ist eine Illusion. Stattdessen brauchen wir Mindeststandards – auf der nationalen Ebene, aber auch auf europäischer Ebene. Ein europäischer Binnenmarkt verlangt nach europäischen Sozialstandards.

Sie stammen aus den Niederlanden. Sind die Gewerkschaften dort ebenfalls dieser Meinung?

Die Gewerkschaften schon. Dort gibt es ohnehin nicht so viele Beschränkungen für Arbeiter aus Osteuropa wie in Deutschland. Die Arbeitgeberorganisation und die Regierung würden sie gern sofort ganz abschaffen. Die Menschen sagen aber, wenn Deutschland die Beschränkungen beibehält, dann steigt der Druck auf die Niederlande.

Wieso sind Ihre Mitgliedsorganisationen in Deutschland und Österreich dagegen, die Freizügigkeit für Osteuropäer sofort zuzulassen?

Das sind sozusagen die Frontstaaten. Sie tragen die Hauptlast. Es würde viel Selbstvertrauen dazu gehören zu sagen: Wir können das verkraften, in einer Zeit großer Unsicherheit für Arbeitnehmer, großer Deregulierungstendenzen und enormen Globalisierungsdrucks.

Inzwischen sind fast alle überzeugt, dass die Beschränkung mehr negative als positive Auswirkungen haben. Weshalb denkt Irland dann darüber nach, den Zugang zum Arbeitsmarkt nachträglich zu beschränken?

Irland hat in den Jahren des Aufschwungs enorm viele Zuwanderer integriert, nicht nur aus Osteuropa. Für Unruhe hat gesorgt, dass in jüngster Zeit einige Arbeitgeber Migranten als Hebel benutzt haben, um niedrigere Löhne und schlechtere Sozialbedingungen durchzusetzen. Da gab es diesen berühmten Fall der irischen Fährgesellschaft. Sie wollten sich unter zypriotischer Flagge registrieren lassen, um den Auflagen in Irland zu entgehen und die irischen Mitarbeiter zu entlassen. Das hat in Irland die Begeisterung für offene Märkte etwas gedämpft.

Ohne europäische Mindeststandards geht es also nicht. Wäre es dafür nicht hilfreich, zunächst die Europäische Verfassung zu haben?

Meine Organisation hat die Verfassung von Anfang an unterstützt. Vor allem natürlich die Grundrechte-Charta. Aber die Botschaft wird von den Mitgliedstaaten und der Kommission nicht richtig vermittelt. Wir haben ihnen klar zu machen versucht, dass sie die Menschen überfordern. Wie kann man zum Beispiel eine Dienstleistungsrichtlinie genau in dem Augenblick auf den Weg bringen, wo ohnehin alle Angst vor den Risiken der Erweiterung haben? Und sie dann verkaufen mit so eindimensionalen Argumenten wie Marktöffnung, Europa ohne Grenzen, Schluss mit der sozialen Hängematte? Sie hätten die ganze Aufregung vermeiden können, wenn sie einmal erklärt hätten, dass es um Zulassungsbedingungen für Unternehmen geht, die zeitlich begrenzt ihre Dienstleistungen anbieten wollen. Das hätte nicht alle Probleme gelöst, aber viel Unsicherheit beseitigt.

Das heißt, ETUC ist für die Dienstleistungsrichtlinie?

Wir waren gegen den ursprünglichen Vorschlag. Das Herkunftslandprinzip hätte unfaire Wettbewerbsbedingungen geschaffen und dazu geführt, dass Umwelt- und Sozialstandards absinken. Aber was jetzt verhandelt wird, unterscheidet sich stark von dem Kommissionsentwurf vor zwei Jahren und könnte für uns akzeptabel sein.

Das bringt uns zurück zum Europäischen Sozialmodell. Können Sie in wenigen Worten umreißen, was Sie sich darunter vorstellen?

Ganz einfach: dass der Markt den Menschen dient und nicht umgekehrt.

INTERVIEW: DANIELA WEINGÄRTNER