DIE „BILD“-ZEITUNG FRAGT: DARF EIN PDS-POLITIKER EINEN PUFF BETREIBEN?
: Eine Frage der Doppelmoral

Wenn die Bild-Zeitung zur Moraltrompete greift, dann ist meist etwas faul. Gestern hat sich das Zentralorgan für sexistischen Kommerz über einen PDS-Abgeordneten hergemacht, den sie als „Puff-Politiker“ bezeichnet. Nun ist der PDS-Parlamentarier Gert Winkelmeier kein Puffbesitzer: Er hat lediglich eine Wohnung vermietet, in der drei Prostituierte arbeiten. Bild aber zitiert mit atemloser Aufgeregtheit aus Kontaktanzeigen jener Prostituierten, um uns die moralische Verkommenheit des Linkspolitikers vor Augen zu führen. Wer drei Seiten weiterblättert, findet in Bild genau die gleichen Texte. In Werbeanzeigen von Callgirls und Bordellen, mit denen der Springer Verlag eine Menge Geld verdient. So viel zur Kompetenz von Bild in Moralfragen.

Beim Thema Prostitution und Politik bewegt man sich in moralischen Grauzonen, in denen die rasche, eindeutige Distanzierung oft nahe an der Doppelmoral siedelt. Denn Prostitution ist die Nachtseite bürgerlicher Wohlanständigkeit: Jeden Tag gehen in der Bundesrepublik 1,2 Millionen Männer zu Prostituierten. Man kann davon ausgehen, dass darunter auch manche Parlamentarier sind. Dass Politiker zu Prostituierten gehen, wird stillschweigend akzeptiert. Warum soll es sich dann um einen Skandal handeln, wenn ein Politiker seine Wohnung an Prostituierte vermietet?

Allein hier eine Trennlinie zwischen Moral und Unmoral zu ziehen greift zu kurz. Viel wichtiger ist, unter welchen Umständen das Geschäft stattfindet. Denn nicht käuflicher Sex ist der moralische Skandal, sondern die Ausbeutung, die oft damit verbunden ist.

Die Linksfraktion hat ihren Abgeordneten Winkelmeier aufgefordert, sein Mandat zurückzugeben. Allerdings weniger aufgrund der Wohnungsaffäre als wegen dubioser Finanzen. Sie hat sich damit korrekt verhalten. Denn einen Parlamentarier, der bei seiner Steuererklärung ins Stottern kommt, kann sich eine Partei, die sich Steuergerechtigkeit auf ihre Fahne schreibt, in der Tat nicht leisten. Das ist wirklich eine Frage der Moral.

STEFAN REINECKE