In Plüschrevolten

Der slowakische Autor Michal Hvorecký literarisiert mit dem Roman „City“ ein Lebensgefühl junger Menschen – die wütende Ohnmacht gegen die Herrschaft des Kapitalismus

von MAIK SÖHLER

Früher, als es noch Marxisten gab, hätte man ihnen Michal Hvoreckýs Roman „City“ vorlegen und gespannt auf das Urteil warten können. Bestenfalls, also bei den liebenswürdigeren Zauseln, wären dann Worte gefallen wie: kleinbürgerlich-verirrt, aber die Krise des kapitalistischen Subjekts betreffend durchaus aufschlussreich; Näheres gelte es noch zu analysieren. Im schlechtesten Fall, also bei den griesgrämigen Teleologen, hätte es geheißen, solch bürgerlich-idealistische oder -voluntaristische Ansätze seien schlicht reaktionär; für den Autor sei der geeignete Platz in der Produktion noch zu suchen.

Heute können wir es uns zum Glück leichter machen und dieses hoffnungslos naive Buch über die Maschinenstürmer der Gegenwart und Zukunft und ihre systematische Einhegung einfach nur schön finden. Hvoreckýs Romanpersonal gehört, wie er selbst schreibt, zu einer „Generation, die gegen nichts mehr gekämpft, nie protestiert, sich mit allem abgefunden und kein einschneidendes historisches Ereignis miterlebt hatte“ und die folglich auch „keinerlei wesentliche Veränderung von irgendwas“ erwartet.

Da ist zuerst sein Protagonist, der junge Fotograf Irvin Mirsky. Bzw. Irvin Mirsky II, denn seine Eltern versuchten, solange sie noch lebten, ihn zu einer Kopie seines bei der Geburt gestorbenen Bruders zu machen. Als auch sie sterben, empfindet Irvin ihren Tod nicht als Verlust. Eigentlich empfindet er gar nichts. Außer er ist online und besucht seine Lieblingsseiten. Schon als Jugendlicher wird er internetpornosüchtig. Seine Heldinnen und Helden heißen „Minori. Roderic. Keiko. Nasty. Desiree. Dick Dog. Backend. Fantasy. Persia“ usw.

Nach langen Aufenthalten in Kliniken und Rehazentren und einer einsamen Reise um die halbe Welt kommt er schließlich nach „City“, einer neuen Megametropole irgendwo im Deutschland der Zukunft oder der fiktionalen Gegenwart. So genau wird das nicht klar, und wichtig ist es auch nicht, schließlich soll „City“ kein Sciencefiction sein. Obwohl manches ganz danach klingt: In „Supereuropa“ können sich Firmen längst die Vornamen von Kindern per Geld und Vertrag sichern, sodass es von Niveas, Nestlés, Hilfigers und Mozillas nur so wimmelt und Irvin darauf wartet, „dass ganze Länder umbenannt und dadurch Staaten wie RedBullgarien, Whirlpolen, Chevrolettland, Pumarokko oder Mazdadonien auf der Landkarte auftauchen würden“.

Aber bleiben wir in der Stadt City und bei ihren Bewohnern. Unter ihnen befinden sich viele Süchtige, die einander gleichen wie eine Pornosite der anderen. Irvin bezeichnet sie als „Drehtürpatienten – hungrig nach Heilung und mit wahnsinnig langen Listen von Rückfällen“. Aus dieser virtuellen Reservearmee rekrutieren er und seine neue Freundin Lina eine treue Anhängerschaft, die dem Codewort „Plüsch“ begierig folgt. Alle zusammen wenden sich gegen die Stumpf- und Krankheiten, die der Kapitalismus in den Subjekten zu erzeugen vermag, und verwandeln City mit vielen Sit-ins und ein wenig Gewalt in eine Mischung aus Hippiecamp und kollektivem Sanatorium.

Magischer Realismus, sexuelle Befreiung, totale Entfremdung, Widerstand gegen popkulturelle Vereinheitlichung und lebensweltlichen Konsumterror, Flower-Power, dritter Weg, Esoterik, Technikfeindschaft und ein Schuss individuelle Revolte – fertig ist der Aufstand der Enttäuschten, wie Hvorecký ihn schildert. So rasch er entstand, so schnell ist er auch wieder vorbei. Wer am Ende meint, er wäre im Film, liegt nicht ganz falsch. Man kennt diese Mischung aus zig Büchern von Chuck Palahniuk, William Gibson u. a., doch langweilig wird „City“ deswegen nicht.

Denn Hvoreckýs Mixtur ist wohl dosiert und wird mit pointierten melancholischen und ironischen Brüchen angereichert. Vor allem aber vermag der Autor hier jenes Lebensgefühl anschaulich zu literarisieren, dass im letzten Jahr schon in Camille de Toledos Pamphlet „Goodbye Tristesse“ sichtbar wurde: die wütende Ohnmacht junger Menschen gegenüber der Alleinherrschaft des Kapitalismus und seinen Zurichtungen des Einzelnen.

Gut, manchmal wünschte man sich von Hvorecký einen genaueren Blick auf die Details. Die Stadt City erscheint so gleichförmig, dass sie zum individualistischen Konsumdogma und der pluralistischen Warenwelt des modernen Kapitalismus nicht recht passt. Auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen in dieser Metropole bleiben unzureichend ausgeleuchtet. Doch die zwischen tieftraurig und hoffnungsvoll-manisch beschriebene Suche Irvins nach Alternativen zu Sucht und Leere machen die kleinen Mängel des Buches mehr als wett: „Alles war krank und süchtig. Die Welt drum herum musste sich verändern. Ich brauchte einen Entzug für mich und die Welt.“

Michal Hvorecký: „City. Der unwahrscheinlichste aller Orte“. Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen Verlag, Berlin 2006, 288 Seiten, 19,80 Euro