Tödliche Fremdenhatz in Sankt Petersburg

In Russland steigt die Zahl fremdenfeindlicher Übergriffe

MOSKAU taz ■ Lichua studiert an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU). Von Mitte April bis Anfang Mai geht die Kunststudentin unfreiwillig in die Ferien. Reis und Nudeln stapeln sich in ihrem Zimmer. Es sei zu gefährlich, das Heim zu verlassen, meint die junge Chinesin. Der Grund: Der Frühling hält schlagartig Einzug mit Horden alkoholisierter Jugendlicher, und Russlands rechte Szene feiert den 20. April, den Geburtstag Adolf Hitlers. Die Soziologische Fakultät und das Afrika-und-Asien-Institut der MGU lassen an diesem Tag alle Aktivitäten für Ausländer ruhen. 2005 organisierte die Universität noch Personenschutz für ausländische Studierende.

Im Frühjahr hat die „Ausländerjagd“ Hochsaison. Am 22. April wurde in der Moskauer Metro ein 17-jähriger Armenier erstochen, am 23. kamen zwei Tadschiken und ein Armenier nach einem Überfall noch mal mit dem Leben davon. Am 24. wurde ein Nigerianer schwer verletzt. Das sind nur aktenkundig gewordene Fälle. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Denn nicht alle Betroffenen wenden sich an die Polizei, weil sie entweder keine Hilfe erwarten oder der Sprache nicht mächtig sind. Wer schwarz, braun, gelb oder einfach nichtslawischer Herkunft ist, muss sich in größeren Städten auf einen Spießrutenlauf gefasst machen.

Bislang quälten die Täter ihre Opfer, schlugen sie zusammen oder traktierten sie mit Messern und Glasscherben. Anfang April erlag erstmals ein Student den Folgen einer Schusswunde. In den frühen Morgenstunden wurde der senegalesische Student Lampsa Samba auf offener Straße aus einem abgesägten Jagdgewehr erschossen. Tatort: das Zentrum Sankt Petersburgs.

Die Metropole ist nicht nur Austragungsort des G-8-Gipfels im Juli, sondern auch die Hochburg rassistischer Gewalttaten, gefolgt von Woronesch, Moskau und Rostow am Don. Täter soll der 21-jährige Dmitri Borowikow sein. Der ehemalige Jurastudent ist in der rechtsradikalen Szene einschlägig bekannt. Seit einem Jahr steht er wegen Verbreitung terroristischer Pamphlete auf der Fahndungsliste. Borowikow gehört der extremistischen Gruppe „Schulz 88“ an, die auch mit dem bestialischen Mord an einer achtjährigen Tadschikin vor zwei Jahren in Verbindung gebracht wird. Die Täter wurden zwar zu Haftstrafen verurteilt, die Anklage wegen Rassismus wurde indes fallengelassen.

In der Statistik tauchen rechtsradikale Gewalttaten gewöhnlich als „Hooliganismus“ und Alltagskriminalität auf. Darauf legen die meist nur widerwillig ermittelnden Strafverfolgungsbehörden Wert. Im Januar überfiel Alexander Koptsew in der Moskauer Synagoge neun Besucher und verletzte sie schwer. Das Gericht verurteilte ihn zu einer langjährigen Haftstrafe, verwarf aber die Anklage wegen Antisemitismus und Mord aus rassistischen Motiven.

Das sind keine Einzelfälle. Zwar nimmt die Zahl verfolgter Gewalttaten zu, die Strafen fallen aber immer milder aus, sagt Galina Koschewnikowa vom Forschungszentrum „Sowa“. Neben „Schulz 88“ treibt noch eine Gruppe in Petersburg ihr Unwesen – die „Weiße Patrouille“. Nach Polizeiangaben gehören der vom Exabgeordneten des Stadtparlaments Juri Belajew gegründeten „Patrouille“ 3.000 Nazis an.

Auch rekrutieren sich diese Organisationen nicht nur aus Skinheads und sozial schwachen Milieus, wie Behörden behaupten. Äußerlich unterscheiden sich die Jugendlichen oft nicht von anderen Gleichaltrigen. Sie ziehen durch die Stadt und „erledigen Aufträge“. Der Plan für März sah 22 Überfälle vor. Im April war dieser nach zweieinhalb Wochen erfüllt, rühmt sich ein Mitglied in der russischen Ausgabe von Newsweek. Für die Weißen Nächte im Juni kündigen sie neue „Säuberungen“ an.

Weder Gesellschaft noch Staat sind beunruhigt. Zwei Drittel der Bevölkerung stimmen Formeln wie „Russland den Russen“ zu, ermittelte das Lewada-Institut. Lag der Index der Ausländerfeindlichkeit bei radikalen Linken und Rechten in den 90er-Jahren um das 1,5-fache höher als bei demokratischen Parteien, gibt es kaum noch Differenzen. Nur in Kriegszeiten sei die Ablehnung des Anderen in Russland stärker gewesen, meint der Soziologe Lew Gudkow. Massen- und Elitebewusstsein gleichen sich ebenfalls immer mehr an. Die Elite erfüllt die Rolle eines Vorbildes nicht. Handlungsunfähigkeit und Versagen versucht sie durch Anpassung an lumpenproletarische Ideologien aufzufangen.

Rassismus ist salonfähig. Im November 2004 hielt Wladimir Adejew vor einem Dumakomitee einen Vortrag über die Aktualität der Rassentheorie. Der Physiker übersetzte die Bücher des nationalsozialistischen Anthropologen Hans Günter ins Russische und war einer Einladung des GUS-Komitees der Duma gefolgt. Dessen Vizevorsitzender Andrej Sawelew gehört der vom Kreml gesponserten Partei „Rodina“ an und machte sich ebenfalls einen Namen als „Theoretiker der Weißen Rasse“. Klaus-Helge Donath

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