Müntefering – Held der Arbeitslosen?

Warum der SPD-Arbeitsminister seiner Partei plötzlich als letzter Rammbock vor dem sozialen Untergang erscheint

BERLIN taz ■ Manchmal werden im politischen Berlin Sätze gesprochen, die glaubt man einfach nicht. „Da braucht es schon die ganze Kraft eines Franz Müntefering, um dem Druck der Union bei Hartz IV standzuhalten und die Arbeitslosen nicht allein zu lassen.“ Da ist so einer dieser Sätze. Gesagt hat ihn gestern Olaf Scholz, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.

Nun gut, könnte man denken, Sozi lobt Sozi, da kann nichts bei rumkommen. Aber Müntefering ein Held der Arbeitslosen? Ein solch verquerer Gedanke läuft nicht einmal mehr unter der Rubrik „Schönfärberei unter Genossen“. Hatte Müntefering nicht unlängst den Bebel-Spruch zitiert, wer nicht arbeite, der solle auch nicht essen? Ist er als zuständiger Minister nicht verantwortlich für die Verschärfungen bei Hartz IV? Wie also kommt’s, dass Müntefering in den eigenen Reihen plötzlich als letzter Rammbock vor dem sozialen Untergang gefeiert wird?

Das hat viel mit der Angst der SPD vor der Union zu tun – und mit der Angst vor sich selbst. Deswegen hebt Müntefering sich in diesen Tagen so auffällig von der Union ab, der bei Hartz IV reflexartig nur noch die Wörter „Missbrauch“ und „Generalrevision“ einfallen. „Ich rede nicht von Missbrauch“, sagt der Arbeitsminister. Er spricht lieber von einer „Dehnung des Gesetzes durch Einzelne“.

Die aufgeregte Debatte über Hartz IV, die angebliche Kostenexplosion und den angeblich massenhaften Leistungsmissbrauch passt Müntefering gar nicht. Besser gesagt, sie passt ihm nicht, weil sie nicht in seinem eigenen Hartz-IV-Drehbuch steht – sondern in dem von CDU und CSU. „Wir führen eine Diskussion, als sei die Pest ausgebrochen“, soll er in der Koalitionsrunde am Sonntagabend in Richtung Union gerufen haben. Er will das verteidigen, was die SPD, als Gerhard Schröder noch ihr Kanzler war, stets als gute und notwendige Reform des Arbeitsmarktes verteidigt hat. Er besteht darauf, dass die erkennbaren Schwächen dieser Hartz-IV-Reform durch das jetzt ausgearbeitete Fortentwicklungsgesetz beseitigt werden. Dabei nimmt er einen höheren Druck auf Arbeitslose, pauschale Vorwürfe, sie würden Arbeit verweigern, sowie verschärfte Kontrollen des Privatlebens der Betroffenen in Kauf – solange dadurch nicht der Regelsatz für das Arbeitslosengeld II von 345 Euro monatlich gekürzt werden muss.

Das ist für Müntefering und die SPD die rote Linie, die unter keinen Umständen überschritten werden darf. „Die Arbeitslosen müssen das Existenzminimum bekommen“, hat der Arbeitsminister vorige Woche in einem Radiointerview gesagt, „daran wird man auch nicht streichen, wenigstens nicht mit mir zusammen.“ Die SPD hat für die Hartz-Reformen, Kernstück ihrer Agenda 2010, bitter bezahlt: mit dem Verlust ihres Kanzlers, einer schier endlosen Reihe von Wahlniederlagen in den Ländern, einem gestörten Verhältnis zu den Gewerkschaften, einer Parteienkonkurrenz links neben ihr. Wenn sie jetzt einer Generalrevision von Hartz IV zustimmen und dabei den Regelsatz von 345 Euro kürzen würde, wäre das nicht nur das Eingeständnis, dass die vielen Opfer der Sozialdemokraten quasi umsonst gewesen sind. Es würde ihren Ruf als Partei der sozialen Gerechtigkeit endgültig ruinieren. Nichts fürchtet die SPD mehr als das.

Das weiß die Union. Deswegen will sie die Schuld an dem „größten sozialpolitischen Flop der Nachkriegsgeschichte“ (CSU-Landesgruppenchef Ramsauer) den Sozialdemokraten in die Schuhe schieben. Sie erinnert sich nicht mehr so gern daran, dass es der hessische CDU-Ministerpräsident Roland Koch war, der 2003 das Hartz IV-Gesetz mit der SPD ausgehandelt hatte. Die Union versucht, die Sozialdemokraten so lange weich zu kochen, bis sie in der Hitze den Verstand verliert und später, vielleicht im Herbst, einer Kürzung der 345 Euro zustimmt. Wer müsste die Maßnahme exekutieren? Eben, Müntefering. Wer würde den Vorwurf der sozialen Kälte kassieren? Die SPD. JENS KÖNIG