Kleine Hände, dicke Schwielen

Die ILO meldet Erfolge bei der Bekämpfung der Kinderarbeit. Doch die offiziellen Zahlen täuschen. Viele Jugendliche arbeiten unentdeckt auf dem Acker

von Annette Jensen

Seit ihrer Gründung 1919 ist die Durchsetzung des Kinderarbeitsverbots eines der wichtigsten Anliegen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Den 12. Juni hat sie zum Welttag gegen Kinderarbeit ausgerufen – und sie wird das Datum nutzen, heute Erfolge zu verkünden: Angeblich ist die Zahl arbeitender Kinder innerhalb von nur vier Jahren um 11 Prozent gesunken. Demnach schuften heute noch 218 Millionen Jungen und Mädchen weltweit. Vor allem in Lateinamerika und der Karibik sei man vorangekommen, jubelt die UNO-Organisation. Nur noch 5 Prozent aller südamerikanischen Kinder arbeiten – zwei Drittel weniger als im Jahr 2000.

Davon haben die meisten Menschen in der Region allerdings nichts mitbekommen. Im Gegenteil. In Argentinien hat sich die wirtschaftliche Situation radikal verschlechtert; parallel nahm die Zahl der Kinderarbeiter um 600 Prozent zu. „1,5 Millionen Minderjährige unter 15 Jahren gehen irgendwelchen Tätigkeiten nach, um zu überleben und ihren Familien zu helfen“, meldete die Zeitung La Nación vor kurzem und berief sich auf offizielle Zahlen der Regierung. 7 Prozent der Argentinier zwischen fünf und zwölf Jahren haben inzwischen einen Job. Bei den unter 15-Jährigen liegt die Quote bei 20 Prozent.

Auch in Peru arbeitet inzwischen jedes vierte Kind – mehr als je zuvor. Vor allem in der Landwirtschaft und in privaten Haushalten wächst die Nachfrage nach den billigen Arbeitskräften. Lediglich in Brasilien und Mexiko beobachten Regierungen und NGOs übereinstimmend einen deutlichen Rückgang.

Doch man kann davon ausgehen, dass in vielen Ländern die offiziellen Zahlen zu niedrig angesetzt sind. „Viele arbeitende Kinder sind – nicht zuletzt durch die von der ILO und ihrem ‚Internationalen Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit‘ (Ipec) veranlassten Maßnahmen – notgedrungen in nichtöffentliche Bereiche ausgewichen“, schreibt der Verein Pronats zur Unterstützung arbeitender Kinder. Auch der Unicef-Berater Alejandro Gómez sagt, dass die in Chile offiziell registrierten Kinderarbeiter die Realität nur unzureichend widerspiegeln, weil etwa Straßenkinder und junge Prostituierte nicht in die Statistik eingingen. „Millionen von Kindern arbeiten ‚unsichtbar‘ in Haushalten oder in der Landwirtschaft und werden daher offiziell nicht mitgezählt“, kritisiert die Deutsche Welthungerhilfe. So tauchen Kinder zum Beispiel nicht auf den Lohnlisten großer Plantagen auf, weil sie dort von Rechts wegen nicht angestellt werden dürfen. Vorteilhaft ist das für die Jungen und Mädchen nicht: Prellt der Arbeitgeber sie um ihren Verdienst, können sie sich in der Regel nicht wehren.

Ausgemergelte Jungen und Mädchen in Steinbrüchen und Bergwerken – dieses Bild der Kinderarbeit in der Dritten Welt ist inzwischen veraltet. Doch tatsächlich schuftet dort weniger als 1 Prozent. Auch mit der Herstellung von Exportprodukten sind nur 5 bis 10 Prozent beschäftigt. Vor allem Boykottaufrufe an Verbraucher in Industrieländern haben dazu geführt, dass die Firmen die Kinder vor die Tür gesetzt haben. Während die Käufer in Europa und den USA nun ein gutes Gewissen haben, geht es den entlassenen Jungen und Mädchen danach meist schlechter, wie mehrere Untersuchungen belegen. So wurden beispielsweise nach einem US-Importverbot für Produkte, an denen Kinder mitgearbeitet hatten, 55.000 Mädchen aus Bangladeschs Textilindustrie entlassen. Später stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen anschließend anderswo für weniger Lohn arbeiteten und manche sich sogar als Prostituierte verdingen mussten. Über 70 Prozent der Kinderarbeiter schuften heute auf Äckern, Wiesen und in Ställen – fast immer unbezahlt.

Kinderarbeiter werden von Bildung ausgeschlossen, sagt die ILO und suggeriert, dass nicht arbeitende Kinder fast automatisch im Klassenzimmer landen. Doch meist ist es nicht die Arbeit, die Kinder daran hindert, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Vielmehr mangelt es vielerorts an Bildungsangeboten. Allein in Indien fehlen 100.000 Grundschulen, obwohl dort offiziell Schulpflicht besteht. Außerdem haben viele Familien nicht genügend Geld, um ihre Kinder zur Schule zu schicken. Immerhin 60 Prozent der arbeitenden Kinder gelingt es jedoch, neben ihrem Job noch eine Schule zu besuchen. Und mancherorts wie zum Beispiel im indischen Bangalore gibt es inzwischen so genannte Flexischulen, die sich auf die Arbeitszeiten der Kinder einstellen.

Genau auf solche Angebote drängt die internationale Bewegung arbeitender Kinder, zu der inzwischen Gruppen aus 30 Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zählen. Sie wehren sich gegen ein Verbot von Kinderarbeit und treten für bessere Arbeitsbedingungen ein.

„Natürlich müssten wir nicht arbeiten. Aber dann würden wir vor Hunger sterben“, sagt beispielsweise der Aktivist Ariel Zapana aus Buenos Aires, der seit seinem sechsten Lebensjahr Geld verdient. Nicht die Tatsache, dass sie arbeiten müssten, sei für ihn und andere Kinder aus den Armenvierteln ein Problem. „Was mich belastet, ist, wenn ich unter schlechten Bedingungen arbeiten muss, keine Rechte habe und ausgebeutet werde,“ sagt der heute 16-Jährige.