Der Hunger treibt sie rein

In US-Großstädten tauchen vermehrt Kojoten auf. Das pralle Leben dort bietet den zähen Wildtieren genügend Futter. Und natürlich sorgen sie, wie Braunbär Bruno, für Angst und Schrecken

AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF

Was der gerade in den Kinos angelaufene Animationsfilm „Ab durch die Hecke“ in rasant-satirischer Zeichentrickmanier aufs Korn nimmt, ist längst kein Spaß mehr: Als Verne, der Waschbär, und die anderen Tiere im Wald aus ihrem Winterschlaf erwachen, finden sie statt ihrer Bäume ein großes grünes Etwas vor: eine Vorgartenhecke. Der smarte, hungrige Verne überzeugt die anderen Tiere, dass es sich lohnt, die Angst vor den Menschen, also die Hecke, zu überwinden. Denn dahinter, in der fetten Welt der Suburbia, wartet ein Schlaraffenland auf sie. Die Tiere müssen sich nur bedienen. Aus Mülltonnen, Komposthaufen, aus Einkaufstüten, ja selbst aus den Autos gibt es Köstlichkeiten wie Chips- und Colareste zu ergaunern.

Dass mit Menschenfutter gedopte Banden von Waschbären, Wildschweinen und Eichhörnchen die Vorstädte der Kontinente erobern, ist nicht neu. Seit Jahrzehnten wandert manche Wildtierart überraschend dreist zurück in den Lebensraum, den ihnen die wachsenden Städte abgerungen hatten. Umgegrabene Blumenbeete, angenagte Kühlschläuche unter den Motorhauben und Vogelrufe, die aus den Bäumen klingen wie ein Handyklingelton – die Art und Weise ihres Comebacks ist oft bizarr. Und wenn es sich nicht gerade um einen Braunbären namens Bruno handelt, auch weitgehend harmlos.

Konnte Bruno die deutsche Öffentlichkeit wenigstens in Fans und Feinde spalten, hat es die neueste Sorte der tierischen Migranten in den nordamerikanischen Vorstädten schwer, überhaupt Sympathie zu erregen. Die Rede ist von Kojoten. Sie haben in diesem April als letzte aller amerikanischen Metropolen endlich auch Washington, D.C., die säuberlich zubetonierte Hauptstadt, kolonisiert. Zuvor, im März, hatte ein Kojote Schlagzeilen gemacht, nachdem er durch den New Yorker Central Park spaziert war. Gesichtet werden die Kojoten in den USA aber mittlerweile längst überall: auf Müllhalden, in Vorgärten, auf Highways, sogar auf Golfplätzen, wo sonst eigentlich Maulwürfe Hausrecht haben.

Schäferhundgroß, aber magerer und auf dünneren Beinen unterwegs, unterscheidet sich der Kojote vom Wolf durch eine schmalere Schnauze, größere Ohren und kürzere Beine. Typisch für Kojoten, die in Familien und seltener in Rudeln zusammenleben, ist der große, buschige Schwanz, den sie tief am Boden halten. Obwohl Kojoten, Verwandte des Schakals und des Dingo, überwiegend Mäuse, Heuschrecken, Hasen und Ratten fressen, vertilgen sie auch Aas und können im Rudel kranke Rehe und Hirsche erlegen.

Weil Kojoten bereits Babys und kleine Kinder angegriffen haben, gründen besorgte Mütter überall dort, wo die Unheilsbringer gesichtet werden, Bürgerinitiativen. Aufgeregte Hausbesitzer verschicken warnende E-Mail-Kettenbriefe. Stadträte kämpfen mit einer Flut von Anträgen zur Aufstellung von drei Meter hohen Zäunen und Kojoten-Fallen. Die sind in der Hauptstadt wie auch in vielen anderen Bundesstaaten aus Tierschutzgründen verboten. Was wiederum heftige Debatten um die Frage auslöst, wie viel Natur im 21. Jahrhundert eigentlich toleriert werden müsse.

Biologen haben die Caniden in der Hauptstadt schon längst erwartet. Während Chicago, New York oder Houston erst in den letzten Jahren Kojotengebiet wurden, sind kalifornische Strände das schon lange. Seit Jahrzehnten erschreckt dort kaum noch jemand, wenn Kojoten aus den Büschen auf die Strände von Santa Barbara kriechen, um die Badehandtücher zu beschnüffeln, die die Menschen zurücklassen, wenn sie ins Wasser gehen.

Andernorts gilt: Wo der Kojote auftaucht, erregt er Unbehagen. Die alte, im Unterbewusstsein sitzende Angst vor dem Wolf bekriecht die Menschen. Aus Europa kommende Menschen wohlgemerkt. Sie brachten ihren Horror vor Isegrimm, dem Wolf, sowie ihre Entschlossenheit, ihn auszurotten, mit in die neue Welt. Indianer hatten sich mit den seit 15.000 Jahren auf dem Kontinent lebenden Kojoten arrangiert, machten sie sogar zu zentralen Figuren ihrer Mythologie. Weil Kojoten einen weißen Fellrand ums Maul haben, der ihnen den Anschein von Clownsgesichtern gibt, sprechen ihnen Indianer List und Schalk zu. Analog zur Besiedelung des Kontinents durch Europäer drängten die Kojoten im 19. Jahrhundert immer weiter nach Westen, vor allem Richtung Kalifornien. Dort füllten sie das ökologische Vakuum, das die systematische Vernichtung der heimischen Wölfe, ihrer Fressfeinde, durch die Siedler hinterließ. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten die Kojoten ihren Weg zurück gen Osten an. Seit den 1950er-Jahren sind sie fester Bestandteil der Fauna in den Neuengland-Staaten. Nur den Südosten der USA, Florida, haben die biologischen Cousins von Wolf, Fuchs und Hund noch nicht erobert.

„Die einzigen, die einen Atomkrieg überleben werden, sind Kakerlaken und Kojoten“, ist sich Trapper Sam Poles aus dem Bundesstaat Virginia sicher. Das einzige, was er seinen Kunden, die ihn anheuern, um Kojoten zu erlegen, stets rät, ist: Lern sie kennen und bereite dich darauf vor, mit ihnen zu leben. „Denn wenn sie einmal angekommen sind, wird man sie nie wieder los“, sagt Pole, der Kojoten schon am Internationalen Flughafen von Washington, Dulles, abschießen musste. Da Kojoten in den USA nicht geschützt sind, laute Poles Auftrag immer öfter: „Kill them!“ So weit muss es gar nicht erst kommen. Der Mensch kann, wenn er will, lernen, mit den sandfarbenen Raubtieren zu leben. Die westkanadische Stadt Vancouver kämpft seit Mitte der 90er-Jahre mit einer Invasion von Kojoten. Den US-amerikanischen Städten mit dem gleichen Phänomen ist sie im Umgang mit den Tieren jedoch um Jahre voraus.

Vor vier Jahren hat die Stadt eine unter Bürgermeistern des Kontinents zunehmend beliebte Telefonnummer, die Kojote-Hotline, eingerichtet. Vancouver verabschiedete zudem den Aktionsplan, „Co-Existing with Coyotes“, Leben mit den Kojoten. Hinter der Hotline versteckt sich nicht etwa eine Behörde, sondern ein Ein-Mann-Büro in Stanley Park, dem größten Stadtpark. Robert Boelens, ehemaliger TV-Reporter und Hobby-Tierpfleger, ist der „Kojote-Mann“ der Stadt. Seine Aufgabe besteht zur Hälfte darin, Schulkinder über Kojote-gerechtes Verhalten aufzuklären. Regel Nr. 1: „Niemals füttern.“ Alle Kojoten, die Kinder angefallen hatten, waren laut Autopsie, absichtlich oder unabsichtlich, mit Lebensmitteln gefüttert worden. Die Stadt hängte daher überall Fütterverbotsschilder aus und verabschiedete strengere Müllgesetze. Leere Grundstücke müssen gemäht werden, damit sie keine Einladung zum Müllabladen darstellen.

Regel Nr. 2: „Niemals wegrennen.“ Nie dürfe man einem Kojoten das Gefühl geben, er sei überlegen. Mit den Kindern übt Boelens daher das „Sichgroßmachen“: schreien, aufplustern, Augenrollen, gemein wirken, den Kojoten direkt in die Augen schauen. Das mache den Tieren Angst. Und die Eltern? Mit denen spricht Boelens über Bissstatistiken – von Haushunden. In Vancouver werden jährlich bis zu 300 Hundebisse an Kindern gemeldet. Doch niemand käme auf die Idee, alle Hunde erschießen lassen zu wollen. Die letzten gemeldeten Kojotenbisse stammen aus dem Jahr 2001 – sechs waren es damals. Seitdem ist Ruhe. Kojote-Mann Boelens verbucht das als einen Erfolg seiner Arbeit. Er kann verstehen, dass Katzen- und Hundebesitzer hasserfüllt sind, wenn sie am Morgen Reste ihres Lieblings auf dem Rasen entdecken. Doch hohe Kojoten-Zäune halten die athletischen Raubtiere ab. Und wenn das nicht hilft, dann wenigstens Regel Nr. 1: Gar nicht erst mit Essbarem anlocken.

Boelens braucht für seinen Beruf eigentlich nur ein Handy, ein Auto und eine Keksdose, in der statt Kekse Nägel liegen. Wenn am helllichten Tag ein Kojote gesichtet wird, fährt er hin, spürt das Tier an seinem Ruheort, meist Gebüsch oder unter Bäumen, auf und verscheucht es mit lautem Geschrei und dem Gerassel der Keksdose. Obwohl das meist reicht und die schlauen Kojoten begreifen, dass sie nicht erwünscht sind, gibt es auch gefährliche Exemplare. Solche, die aggressives, angstfreies Verhalten zeigen und sich nicht verscheuchen lassen. Die lässt Boelens ohne Zögern einfangen und einschläfern. Eine Umsiedelung wäre wirkungslos. Die Tiere sind oft in wenigen Tagen zurück am alten Ort.

Jetzt erst beginnen Biologen, das Verhalten der Kojoten zu erforschen. In Chicago beobachtet Professor Stan Gehrt vom „Cook County Coyote Project“ 220 mit Radiosendern bestückte Kojoten über längere Zeit. Anhand von Kotanalysen versuchen er und Studenten zudem herauszufinden, was die Tiere fressen und wie sie sich in der für sie ungewohnten Stadtlandschaft behaupten. Sein Ziel: Herausfinden, ob Kojoten im Umfeld der Menschen unweigerlich zur Gefahr werden. „Es gibt aber noch zu viel, was wir über Kojoten nicht wissen“, sagt er. Eine Angst kann er besorgten Stadtmenschen aber schon mal nehmen: Wenn Kojoten mit dem Sound der Krankenwagensirenen heulten, sei das nichts Unheilvolles. Vielmehr versuchten die Kojoten zu „antworten“. Sie passen sich eben schnell an.