PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Ab 1.500 Höhenmeter wird geduzt

Gut, es gibt wichtigere Fragen. Aber keine beschäftigt so viele deutschsprachige Menschen wie die nach dem „du“

Nachdem die Frage, wer Weltmeister wird, nicht ganz im Sinne der Bild entschieden worden war und der Redaktion in den Tagen danach keine wichtigen Fragen mehr einfielen, suchte das Blatt, mehr aus Verlegenheit denn aus echtem Interesse, nach einer weiteren Ur-Antwort der deutschsprachigen Menschheit: „Sollen wir uns alle duzen?“

Fast hätte ich dafür 50 Cent ausgegeben. Denn mögen die Schlagzeilenproduzenten in Berlin die Frage schon fünf Minuten nach Druckbeginn wieder vergessen haben: Mich beschäftigte sie schon vorher und lässt mich auch heute noch nicht los. Erst gestern ertappte ich mich wieder, wie ich meinen Nachbarn auf der Straße siezte, wo er mir doch bei einem Glas Sekt auf seiner Terrasse vor einem halben Jahr das Du angeboten hatte. Er sah aber eben genau so aus, wie die Menschen, die ich mit 20 siezte. Würde ich mir selber heute auf der Straße begegnen, ich hätte das gleiche Problem.

Dass ich damit nicht alleine bin, entnahm ich gestern meiner Lokalzeitung: Im Leserbriefteil des Schwäbischen Tagblatts wurde die Qualität eines scheidenden Schulrektors dadurch angezweifelt, dass er den ehemaligen Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder geduzt habe. Ein bemerkenswertes Argument, vor allem, wenn man weiß, dass Gerhard Mayer-Vorfelder in seinem Leben noch keinen einzigen Menschen gesiezt hat. Außer Herrn Klinsmann, vielleicht.

Auf dem Fußballplatz von Kirchentellinsfurt (uff, endlich konnte ich mal wieder den Ortsnamen unterbringen) nannte am Ende der letzten Saison ein Zuschauer den Schiedsrichter „du Arschloch“. Ich musste meinem erschrockenen Sohn erklären, dass man so etwas nicht tut und, wenn schon, dann „Sie Arschloch!“ brüllt. Ich merkte dabei, wie schwer es ist, die richtige Regel für die korrekte Ansprache zu formulieren, zumindest für ein Alter, in dem die Lehrerin noch gefragt wird: „Wie geht’s dir, Frau Baumbach?“

Seither gilt bei uns die Regel: In der Wohnung alle Du, auf der Straße und auf dem Fußballplatz alle Sie. Würden sich alle daran halten, wäre ein Zinedine Zidane im WM-Endspiel nicht zu einem Kopfstoß gezwungen gewesen. „Herr Zidane, Ihre Schwester geht der Prostitution nach“ klingt einfach dezenter als: „Deine Schwester ist eine Hure.“

Es handelt sich um ein Lebensthema: Verwendet man als Heranwachsender das Sie aus falschem Respekt gegenüber älteren Mitmenschen viel zu häufig, kehrt es sich gegen Lebensmitte um: Das Du wird urplötzlich zum Beweis, dass man noch nicht zum alten Eisen zählt. Tramper (die mit dem Daumen!) waren, als es sie noch gab, ein guter Indikator: Siezten sie einen, konnte man sich schon mal bei der Prostata-Krebsvorsorge anmelden.

Merkwürdig war ein Erlebnis im vergangenen Sommer aus dem Alpenraum. Touristen aus demselben Gasthof, die sich am Frühstücksbuffet noch gesiezt hatten, redeten sich zwei Stunden später ohne vorherige Absprache auf der Alm mit Du an. Seither versuche ich die Duz-Grenze zu lokalisieren, an der die Konventionen fallen. Sie liegt irgendwo bei 1.500 Höhenmetern. Wer immer die Duz-Gesetze steuert oder entscheidet, an welchen Orten welche Regel gilt (SPD: Du, CDU: Sie, Fitness-Studio: Du, Krankenkasse: Sie) – in der Sauna, also dort, wo man es am ehesten erwarten müsste, sitzen sich nackte Menschen gegenüber und reden sich mit Sie an.

In Zweifelsfällen hilft übrigens das Ihrzen. In bäuerlichen Gegenden noch sehr verbreitet, nimmt der Landwirt seinem städtischen Gegenüber damit die Peinlichkeit der Entscheidung ab: „So, seid’s Ihr auch einmal wieder hier heroben“ – „Ja, sind wir“, lautet die korrekte Antwort in der Majestätsform.

Kürzlich wurde ich gewarnt: Schüler eines Kurses über „die Grundlagen der Reportage“ duzte ich schon am ersten Tag ohne Umschweife. Die fanden das prima. Nur glaubten sie in der Folge, meine Kritik an ihren abgelieferten Texten wären Diskussionsbeiträge und keine Direktiven. Das Missverständnis ließ ich nicht wieder ausräumen. Ich fürchte, ich konnte ihnen nichts beibringen.

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