„Zuzutrauen ist allen alles“

Kritik der Kritik (8): ein Gespräch mit dem Schriftsteller Klaus Modick über seinen neuen Roman „Bestseller“, die zumindest innerbetrieblich weiterhin sehr große Macht der Literaturkritik im Speziellen und die Schizophrenie der Kritik im Allgemeinen

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Konsumindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

INTERVIEW: FRANK SCHÄFER

taz: Herr Modick, Lukas Domcik ist ein Anagramm Ihres Namens, Domciks Bücher sind leicht verfremdete Modick-Titel. Sie spielen da mit der Erzähler-Fiktion, spiegeln sich selbst in Ihrer Figur. Ihr neuer Roman „Bestseller“ kippt denn auch partiell um in einen Bekenntnisessay eines Schriftstellers, der Ihnen sehr ähnlich ist. Es gibt da offenbar eine tiefer liegende Ernstebene, eine Verletzung durch den Betrieb.

Klaus Modick: Das kann ich nicht leugnen. Lukas Domcik ist fiktiv, aber in dieser Figur stecke ich natürlich drin. Ich habe ein paar Dinge satirisch zugespitzt, aber manche kommen auch eins zu eins aus meinem Erfahrungsschatz. Bis hin zu dem Umstand, dass mich mal ein Verlag um zirka 5.000 Exemplare beschissen hat. Im Roman steckt also ein gewisser Furor. Man hat im Lauf der Jahre ja so einiges mitgemacht. Ich bin einer dieser Autoren, das Buch reflektiert das an einer Stelle auch, die in einer merkwürdigen Situation sind. Wir sind für die Verlage wichtig, weil wir zuverlässig und regelmäßig arbeiten, weil wir auf dem Markt nicht positioniert werden müssen, wir haben einen Namen, sind eingeführt. In meinem Fall: Ich bin ein Autor, der fast immer schwarze Zahlen schreibt. Ich bin also kein Risikoautor, aber ich bin eben auch kein Bestsellerautor. Das ist dann eher für mich ein Problem, weil der Verlag mit seinen Marketing- und Werbemaßnahmen nicht solche soliden Schriftsteller wie mich, sondern Bücher und Autoren pusht, bei denen man sich manchmal schon an den Kopf fasst. Extremes Beispiel bei Eichborn vor ein paar Jahren: der Roman von Wolfgang Joop. Das fand ich hochgradig ärgerlich.

Ihr eigener Verlag bekommt ja gehörig was auf den Deckel. Sie spielen an auf die beiden vermeintlichen oder auch tatsächlichen Fälschungs-Fälle bei Eichborn: das „Manieren“-Buch von Asfa-Wossen Asserate und das Tagebuch der Anonyma „Eine Frau in Berlin“.

Bei den Anspielungen auf Asserate hat Eichborn durchaus Bedenken gehabt. Das Problem, und das gilt auch für das Anonyma-Buch, ist folgendes: Beide Titel sind in der Anderen Bibliothek erschienen, und das ist ein von der alltäglichen Verlagsarbeit fast autonom operierender Bereich. Es hat kein Lektor von Eichborn diese Bücher lektoriert oder Mitsprache gehabt; das hat immer alles Enzensberger exklusiv verantwortet. Was die Asserate-Geschichte angeht: Ich bin ja nicht der Erste, der darauf kam, das rauschte ja durch alle Feuilletons, bis Martin Mosebach sich bemüßigt fühlte, eine Stellungnahme abzugeben und zu sagen, er habe das Buch lediglich sehr gründlich lektoriert. Tja … (lacht) Ich finde das auch weiter nicht schlimm, es war ja ein sehr gutes Buch. Auch die Mystifikation fand ich eigentlich ziemlich charmant. Das würde auch gut zu Enzensberger passen, denn er selbst hat ja immer sehr gerne mit Pseudonymen und Mystifikationen gearbeitet.

Dahinter steckt die Frage, wie weit man die Fiktionalisierung treiben darf. Man könnte das ja auch offensiver angehen und den Autor als Teil des Kunstwerks begreifen, als eine weitere Fiktion.

Ich bin da hin- und hergerissen. Einerseits haben diese Fälschungen einen gewissen Charme. Ekelhaft wird es aber andererseits, wenn es ins Abgeschmackte geht, wenn versucht wird, diesen ganzen Nazi-Scheiß auszubeuten, die braune Bonanza, wie ich das in „Bestseller“ nenne. Da hört es dann auf, charmant zu sein. Auch diese Anonyma-Geschichte, „Eine Frau in Berlin“, die ich hochgradig undurchsichtig finde, ist bis heute nicht aufgeklärt worden, obwohl sich daran mehrere Journalisten investigativ die Zähne stumpf gebissen haben. Ich halte das immer noch für einen manipulierten Text, oder doch jedenfalls für weitgehend manipuliert.

Halten Sie es für vorstellbar, dass jemand gezielt den Fälschungsverdacht lanciert, um den Verkauf eines Buches anzukurbeln?

Möglich ist auch das. Nehmen Sie Günter Grass. Er sagt, er war in der Waffen-SS. Da fasst man sich doch an den Kopf. Nicht deshalb, weil er in der Waffen-SS war. Nein, sondern: Wann sagt er das? Er sagt das unmittelbar vor Erscheinen seines neuen Buches. Ich glaube mittlerweile so viel oder so wenig, dass ich mich nicht mal wundern würde, wenn es gar nicht stimmt.

Na, das wird schon stimmen.

Na gut, es wird schon stimmen, aber in der Logik meines Romans wäre auch das denkbar. Das wäre nur eine Schraubendrehung mehr. Zuzutrauen ist da eigentlich allen alles. Dann gibt es natürlich auch die andere Seite: Wie realistisch darf die Fiktion überhaupt sein? Es haben sich etwa manche Leute böse auf den Schlips getreten gefühlt von meinem „Vatertagebuch“. Zum Beispiel ein paar Lehrer von der Schule meiner Töchter. Die Schule weiß, die sind gemeint, aber sonst niemand. Ich habe sehr böse, gekränkte, zum Teil auch anonyme Briefe bekommen. Wenn man solche Rücksichtnahmen bedenken soll, dann müsste man auch mal bedenken, was ein Rezensent mit einem Buch machen darf, öffentlich. Ich beobachte schon seit längerem, dass es zunehmend eine Form der Häme, eine Verunglimpfungskritik gibt, von der auch die großen Feuilletons nicht frei sind. Es geht dabei nicht mehr darum, zu zeigen, warum ein Buch missfallen hat oder warum es ein möglicherweise missglücktes Buch sei, das ist ja das gute Recht und meinetwegen auch die Pflicht der Kritik, sondern es kommt zu Verunglimpfungen kompletter Autorenexistenzen. Das geht nicht. Das geht auch moralisch nicht, aber das ist ja offensichtlich keine Kategorie.

Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, es steckt ein Machtimpuls dahinter. Man muss einräumen, auch wenn die Kritik an Einfluss auf den Markt verliert, innerbetrieblich ist sie so wichtig wie eh und je, indem sie eine Art Ranking erstellt, und dieses Ranking ist wiederum enorm wichtig für die Reputation der Autoren, und die ist wichtig, wenn es um Stipendien und Preise geht. Da hat die Kritik nach wie vor enorme Macht. Da werden Leute regelrecht exkommuniziert oder eben geadelt, je nachdem.

Was leistet Kritik denn noch für den Autor, wenn wir jetzt mal vom marktwirtschaftlichen Gesichtspunkt absehen? Kann man Kritiken nicht zumindest bestimmte Paradigmen oder Forderungen ablesen, den ästhetischen Zeitgeist sozusagen, und als alerter Autor darauf reagieren?

Wenn man denn so ein alerter Autor wäre, vielleicht. Aber da könnte man sich auch schwer vertun. Die Kritik ist ja mitunter sehr schizophren, sie hackt manchmal gern auf dem herum, was sie gerade erst eingefordert hat. Manchmal merkt sie gar nicht, dass es das, was von ihr verlangt wird, schon längst gibt. In meiner Laufbahn als Autor fiel die über mehrere Jahre anschwellende Forderung, ich entsinne mich mit Unbehagen daran, die deutsche Literatur müsse gefälligst zurück zum unterhaltsamen, guten Erzählen, weg vom Experimentellen. Als ob es das nicht längst gab, nicht nur in meinem Werk, sondern bei vielen Autoren meiner Generation. Oder diese Schizophrenie: Als „Der Flügel“ erschien, habe ich das Buch im Literarischen Colloquium in Berlin vorgestellt, in einer Kritikerrunde. Da wurde also diskutiert nach der Lesung. Einer der Kritiker hat das Buch zwar nicht niedergemacht, aber deutlich zu erkennen gegeben, dass ihm das alles nicht so richtig passte. Kaum waren die Mikrofone ausgeschaltet, das war eine Aufzeichnung für den Deutschlandfunk, sagt dieser Kritiker: Jetzt mal so unter uns, wenn dieses Buch von John Updike gewesen wäre, hätten wir es ja alle toll gefunden. Das ist die Schizophrenie der Kritik. Sie sagt: Deutsche Autoren können nicht niveauvoll und spannend erzählen, das können aus irgendwelchen Gründen, die aber nie genau erklärt werden, nur die Angelsachsen, besonders Amerikaner. Der Modick darf das demnach gar nicht können. Ich kann und mache das zwar, aber das passt dann eben nicht in die Schablone, dass die Deutschen das angeblich nicht können. Wenn dann einer kommt, der das doch kann, dann passt das nicht ins Bild. Kritik als Selffulfilling Prophecy sozusagen.

War das am Ende ein selbstironischer Reflex des Kritikers? Wie hat denn das Publikum darauf reagiert?

Es gab einen Riesenlacher im Publikum. Dann reagierte der Kritiker darauf und sagte: Nein, so hätte er das ja gar nicht gemeint. Es war aber so eine Art Freudscher Fehlleistung, die mir eines ganz plötzlich klar gemacht hat: Man ignoriert einfach oder macht runter, was nicht in die selbst gebastelte Schublade passt. Deshalb halte ich die immer mal wieder geäußerten Appelle der Kritik auch für sehr zweifelhaft.

Der große Deutschlandroman?

Ja. Oder vor der Wiedervereinigung forderte Schirrmacher: Wo bleibt der deutsche Großstadtroman? Das werde ich nie vergessen, da gab es eine Seite in der FAZ: „Stellt euch den Metropolen“ hieß die Überschrift. Das ist ja sowieso eine irre Vorstellung, zu glauben, dass irgendein Autor so etwas schreibt, weil Schirrmacher oder irgendein anderer befiehlt: Nun macht das mal! Als ob die Autoren jetzt alle mit den Hacken schlagen und sagen würden: Jawohl, Chef, wird gemacht!

Wer ist denn der etwas windige Lektor Scholz in Ihrem Buch?

Den Lektor Scholz gab es schon in „Weg war weg“, wie auch Lukas Domcik. Das ist fast zwanzig Jahre her. Da war ich noch ziemlich am Anfang, die meisten Leute des Betriebs habe ich erst hinterher kennengelernt. Ralf Scholz ist idealtypisch zusammengesetzt aus verschiedenen Lektoren, Verlegern und Verlagsleuten und aus Aussagen, die von solchen Leuten getroffen werden. Also eine reine Konstruktion. Dieser völlig hirnrissige Vorschlag, man solle sich immer überlegen, bevor man anfange zu schreiben, was Hollywood dazu sagen würde, stammt von einem real existierenden Verlagsleiter. Wenn er deshalb jetzt denkt, er ist gemeint, das ist er es und zugleich auch nicht. Ein sehr guter Lektor übrigens. Er hatte nur diese Marotte: Was würde Hollywood dazu sagen?

Haben Sie im Laufe der Jahre eine Veränderung bemerkt beim Lektorat?

Ja. Als ich anfing bei Haffmans und dann bei Rowohlt, habe ich Lektoratsarbeit erlebt, die wirklich sehr ins Detail ging. Mein Debüt bei Haffmans hat damals Fritz Senn lektoriert, Senn ist ein Joyce-Forscher, ein hochintelligenter Mann. Das war eine Art des Lektorats, die habe ich später nie wieder erlebt. Wir haben Briefe gewechselt, in denen ging es manchmal nur um einen halben Satz, einmal um ein einziges Wort. Ich bin ja nun durch verschiedene Verlage gegangen im Laufe meiner Karriere und habe die unterschiedlichsten Typen erlebt, aber durch die Bank lässt sich sagen, dass die Lektoratsqualität den Bach runtergegangen ist. Ein Plot ist relativ leicht zu lektorieren, da muss man sich ja nicht auf Sprachdetails einlassen. Ein Lektorat, das sich intensiv auf die Feinstruktur des Textes einlässt, gibt es kaum noch.