Die gefährliche Freiheit

Alle Bundestagsparteien diskutieren über das Grundeinkommen als Alternative zum Zwangssystem Hartz IV – nur nicht die SPD

VON HANNES KOCH
UND ULRIKE WINKELMANN

Union, Grüne und Linkspartei wurden in jüngster Zeit von einem seltenen Virus befallen: der Lust an visionärem Denken. Die Parteien haben neuerdings ein gemeinsames Thema. In Schwingung versetzt sie das sogenannte bedingungslose Grundeinkommen. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass jeder Bundesbürger eine soziale Basissicherung erhalten soll, ohne von Hartz-IV-Kontrolleuren unter Druck gesetzt zu sein.

Die Parteispitzen sind von diesem Anstoß irritiert, blocken ihn aber nicht komplett ab. Nachdem beim Zukunftskongress der Grünen Anfang September Kommunal- und Landespolitiker die Initiative ergriffen, will Parteichef Reinhard Bütikofer das Grundeinkommen nun zum Thema des Parteitages in zwei Monaten machen. Angesichts des „schillernden Konzeptes“ mit seinen häufig unausgegorenen Varianten ist Bütikofer zwar skeptisch. „Aber man muss die Diskussion führen“, sagte er der taz.

Bei der Union hat sich mit Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) unlängst ein prominenter Politiker zur Basissicherung neuen Typs bekannt. „Die Betreuungsbürokratie bietet keine wirkliche Lösung“, so Althaus gegenüber der taz. Sein Konzept des „solidarischen Bürgergeldes“ hält der CDU-Ministerpräsident für ein „Zukunftsmodell der pluralistischen Gesellschaft“. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla hat Althaus eingeladen, die Idee Ende Oktober in der CDU-Grundsatzkommission zu präsentieren.

Das Althaus-Konzept sieht so aus: Jeder Bundesbürger bekommt 800 Euro pro Monat vom Staat – egal, ob er arbeitet oder nicht. Kinder erhalten 500 Euro. Wer arbeitet, bezahlt 50 Prozent Einkommensteuer – bis zu einem eigenen Verdienst von 1.600 Euro monatlich. Unterhalb dieser Grenze würde der Staat seinen Bürgern Geld dazuschießen – und zwar mehr, als bei Hartz IV (siehe Kasten). Während Geringverdiener von dieser „negativen Einkommensteuer“ profitieren, sollen Beschäftigte mit mehr als 1.600 Euro Monatseinkommen wie heute Steuern an den Staat zahlen. Schikanöse Kontrollanrufe durch Arbeitsberater, Vorladungen, Urlaubssperre und Kürzung des Hartz-IV-Satzes – all das wäre Vergangenheit. Althaus hofft darauf, dass die „Bürger neues Vertrauen in den Staat“ entwickeln. Wer grundsätzlich sozial abgesichert sei, werde sich freiwillig und selbst verantwortlich um Arbeit bemühen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU lässt gerade durchrechnen, ob ein Grundeinkommen à la Althaus, das rund 600 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde, überhaupt finanzierbar ist. Mit der Untersuchung beauftragt hat die Stiftung den Jenaer Wirtschaftswissenschaftler Michael Opielka. Dieser zeichnet verantwortlich für das außerparlamentarische „Netzwerk Grundeinkommen“ und ist – Grüner.

Als „reaktionär“ bezeichnet dagegen Michael Schlecht das Althaus-Konzept. Schlecht arbeitet als Ökonom bei der Gewerkschaft Ver.di und ist Mitglied der Hartz-Protestpartei WASG. Sein hartes Urteil teilt auch die Mehrheit der PDS-Linksfraktion im Bundestag. Die hat unlängst der parteiinternen Grundeinkommen-Befürworterin Katja Kipping und ihrer Anhängerschaft eine Abstimmungsniederlage beigebracht.

„In unserer Gesellschaft ist es doch wie in einer Wohngemeinschaft“, begründet Schlecht seine Ablehnung: „Niemand darf sich permanent weigern, den Müll runterzubringen.“ Der deutsche Sozialstaat dürfe keine Leistung ohne Gegenleistung vergeben, meint der Ver.di-Ökonom. Eine bedingungslose Faultierprämie würde nur dazu führen, dass sich Millionen Menschen mehr noch als heute in eine asoziale Parallelwelt verabschiedeten. Nicht nur Schlecht, auch Axel Troost, Wirtschaftspolitiker der Linkspartei, plädiert deshalb für eine „bedarfsorientierte Grundsicherung“, die den Arbeitslosen weiterhin Arbeitswillen abverlangt.

An der SPD gehen diese Debatten zur Zeit spurlos vorüber. Dort zündet die Idee vom Grundeinkommen überhaupt nicht. Die Sozialdemokraten, erklärt der SPD-Arbeitsmarktexperte Ottmar Schreiner, sehen im Grundeinkommen die Abkehr vom Ziel der Vollbeschäftigung. „Das ist die Scheidelinie“, erklärt Schreiner: „Die SPD lässt nicht davon ab, dass gesellschaftliche und individuelle Integration über Arbeit läuft.“ Alles andere sei auch der arbeitenden Bevölkerung nicht zu vermitteln, die das Grundeinkommen ja aus ihren Steuergeldern finanzieren müsse.

Die Politiker von SPD und Linkspartei macht im Übrigen misstrauisch, dass die Idee des Bürgergeldes auch von den Wirtschaftsliberalen der FDP vertreten wird (siehe Interview). Auch Grünen-Chef Bütikofer begründet seine Skepsis zum Teil mit dem liberalen Ursprung des Konzeptes, dessen erster Wegbereiter der US-Ökonom Milton Friedman war. Vieles am Grundeinkommen sei „noch mehr Ausdruck von Suche als von Konzept“, sagt Bütikofer.