Begrüßung als Brüder

Er war ein Idealist, fast ein Don Quichotte. 1956 unterstützte Hubertus Prinz zu Löwenstein den Ungarnaufstand. Dieser Tage würde er hundert

VON ASTRID VON PUFENDORF

„‚Warum sind Sie nach Ungarn gekommen? Wer hat Sie gerufen? Wer hat Ihnen überhaupt gegeben die Erlaubnis?‘ Diese Fragen schoss der sowjetische Major bei dem Verhör in Budapest auf mich ab, ohne auch nur auf eine Antwort zu warten.“ So beginnt ein Erlebnisbericht des Prinzen Hubertus zu Löwenstein, Mitglied des Deutschen Bundestags, über die „dramatischen Tage in Budapest“ in der ersten Novemberwoche 1956, vor fast fünfzig Jahren. Prinz Löwenstein war damals gerade 50 Jahre alt geworden, am kommenden Sonnabend würde er hundert Jahre alt.

Am 23. Oktober 1956 war in Ungarn der nationale Volksaufstand ausgebrochen. Die Studenten forderten ultimativ den Abzug der sowjetischen Truppen, Auflösung der Geheimpolizei, freie Wahlen und Pressefreiheit. Nach blutigen Zusammenstößen mit den Studenten, Arbeitern und ungarischen Truppen unter Oberst Maleter hatte sich die Rote Armee zunächst zurückgezogen. Ministerpräsident Imre Nagy hatte ein Mehrparteienkabinett gebildet und den Austritt aus dem Warschauer Pakt verkündet. Als Löwenstein mit seinem engen Freund und jahrzehntelangen Mitarbeiter Volkmar Zühlsdorff am 31. Oktober über die österreichische Grenze nach Budapest kam, fand er ein verändertes Land vor: Kein Stacheldraht, keine Grenzkontrollen, jubelnde Menschen auf den Straßen, es war keine „Revolution revolutionärer Politiker, sondern ein Aufstand des Volkes. Ein Haufen schwelenden, halb verkohlten Papiers bedeckte die Straße vor der ehemaligen Zentrale sowjetischer Propaganda und Literatur – das Volk hatte Bücher und Pamphlete hinausgeworfen und in Brand gesteckt. Eine Menschenmenge sammelte sich um uns. Man begrüßte uns als Deutsche, als Brüder. Viele sprachen deutsch, sie erzählten von den Sowjets, den AVOs (der ungarische Gestapo), als wäre es ein lange vergangener böser Traum. Das Zeitalter der Freiheit war angebrochen für diese Menschen.“

Der Prinz wollte die Aufständischen unterstützen, ihnen als Bundestagsabgeordneter – freilich ohne offiziellen Auftrag – zeigen, dass Westdeutschland an der Seite der Aufständischen stand, „wollte helfen“, wie er im sowjetischen Verhör zu Protokoll gab. „‚Wem wollten Sie helfen? Den Faschisten wollten Sie helfen.‘ ‚Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich kenne hier gar keine Faschisten. Außerdem bin ich Demokrat, und das ist nun wirklich bekannt. Helfen wollte ich dem notleidenden Volk, ohne Unterschied der Partei.‘ ‚Und ein Prinz sind Sie auch. Wie kann sein ein Prinz ein Demokrat?‘ ‚Sollten Sie noch nie vom Grafen Tolstoi gehört haben?‘“

Der politischen Konfrontation war Hubertus Prinz zu Löwenstein nie aus dem Weg gegangen. Am 12. Juli 1930 hatte er als 23-Jähriger in der Vossischen Zeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Nazipartei mit dem italienischen Faschismus und der alten Reichsidee verglich und zu dem Schluss kam, dass „das Fundament, auf dem die NSDAP steht, hohl ist“ und „der Aufbau [der NS-Ideologie] aus Phrasen und Gesten à la Mussolini besteht, und sogar diese sind schlecht nachgeahmt“. Seine Einschätzung basierte auf Studien, die er ein Jahr später mit einer Promotion über den italienischen Faschismus abschloss.

Löwenstein trat der Zentrumspartei bei, baute die Jugendorganisation des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ auf und reiste durch Deutschland, um in Vorträgen vor den Gefahren zu warnen, die der Republik drohten. Für die Nazis war er ein rotes Tuch, zumal er noch nach der „Machtergreifung“ öffentliche Reden hielt. Als er Anfang April 1933 ins Polizeirevier Berlin-Charlottenburg einbestellt wurde, ahnte er, was ihm bevorstand. Doch er hatte Glück, er geriet an einen alten preußischen Beamten, und der machte das so: „Sagen Sie, Durchlaucht, Sie lieben doch Italien?“ „Natürlich“, antwortete Löwenstein, „ich bin in Südtirol geboren und habe in Palermo geheiratet.“ „Wollen Sie nicht wieder einmal nach Italien reisen?“, fragte der Beamte, der Prinz verstand und fragte: „Sie scheinen ja Italien gut zu kennen, was ist denn die schönste Zeit für eine Reise?“ Der Beamte studierte eine Liste, stockte beim Buchstaben L und meinte beiläufig, „ich würde unbedingt vor dem 30. April reisen.“

Der Prinz verließ Deutschland, emigrierte erst nach Österreich, dann nach England und schließlich in die USA. Seine Frau Helga, eine gebürtige Norwegerin, folgte ihm Mitte Mai, ebenso sein Assistent Zühlsdorff, der sein Studium in Österreich fortsetzte. In der ganzen Zeit der Emigration warb Löwenstein für ein Deutschland nach Hitler und kämpfte gegen die Appeasementpolitik der Alliierten. In New York gründete er mit Zühlsdorff ein Hilfswerk für deutsche Emigranten und die Deutsche Akademie, zu der Einstein, Freud und Thomas Mann gehörten, mit dem Ziel, die deutsche Kultur trotz NS-Barbarei zu pflegen und zu verbreiten.

Direkt nach dem Krieg kehrte Löwenstein nach Deutschland zurück, gründete gemeinsam mit Zühlsdorff die erste Bürgerinitiative in Deutschland; die „Deutsche Aktion“ setzte sich erfolgreich zum Beispiel für die Rettung Helgolands vor den englischen Bombenversuchen ein. Löwenstein war ein Idealist, zuweilen sogar ein Don Quichotte, aber ein Mann mit Zivilcourage. Als ein solcher war er nun nach Ungarn gereist, um die Revolutionäre zu unterstützen.

Zunächst nahm er Kontakt mit den Studenten auf. „Studenten mit Maschinenpistolen bewachten den Eingang zur Universität. Die Hallen und Gänge der Universität bildeten ein Heerlager. Aus der unterdrückten Freiheit der Lehre war die Lehre der Freiheit entsprungen – welch eine Dialektik! Viele Studenten, die sich um ihre Professoren sammelten, bekannten sich nach wie vor als Kommunisten, gespalten allerdings in die verschiedensten Gruppen, Trotzkisten, Leninisten, Titoisten.“ Doch in dem Wunsch nach „Befreiung vom russischen Joch“ waren sie sich alle einig.

Was konnte man tun, um zu helfen? Man schickte Löwenstein zum ungarischen Staatsminister Gera Losonszy. Mit ihm sprach er über die Möglichkeiten, diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufzunehmen, wobei sich beide einig waren, dass Ungarns Abbruch der Beziehungen zur DDR, von der Losonszy meinte, sie sei „kein Staat, sie ist eine Krankheit“, die Voraussetzung sei. Löwenstein wandte sich noch am gleichen Abend – es war Freitag, der 2. November – über Radio Budapest an die deutsche Bevölkerung und die Bundesregierung: „Hilfe für Ungarn! Nicht nur Lebensmittel, Medikamente, Heizöl, Fensterglas, Kupfer und Baumaterial, auch ein baldiges Kulturabkommen, das unter anderem den Studenten Ungarns die Stipendien der Bundesrepublik zugänglich macht!“

„Als wir Freitagnacht das Parlament, den Sitz der Regierung verließen, fuhren gespenstisch im Novembernebel ungarische Panzer auf. Zum Schutz der Regierung – nicht etwa gegen das eigene Volk, sondern als Vorsichtsmaßnahme gegen eine neue russische Invasion. Im Inneren hatte sich die Stellung der Regierung durch den Austritt aus dem Warschauer Pakt konsolidiert. Soweit es noch Misstrauen gegen Nagy gegeben hatte, jetzt war es durch seine Haltung gegenüber den Sowjets gewichen. Jetzt hatte er alle Gruppen hinter sich. Die Autorität eines einheitlichen Oberkommandos unter dem Minister für Verteidigung, Paul Maleter, hatte sich durchgesetzt.“

Tags darauf besuchte Löwenstein zusammen mit Zühlsdorff den Fürstprimas von Ungarn, Kardinal Mindszenty. Ungarns Armee und die revolutionären Studenten hatten ihn kurz zuvor aus der Haft der Geheimpolizei befreit. „Acht Jahre lang hatte er in ihren Kellern alle Martern und alle Erniedrigungen erduldet, verurteilt 1949 zu lebenslänglichem Zuchthaus. Es dürfte eine seiner letzten Unterredungen gewesen sein – die sowjetischen Panzer standen bereits zwölf Kilometer vor der Kettenbrücke, um 4.55 Uhr am nächsten Morgen eröffneten sie das Feuer.“

Löwenstein schildert das Inferno: „Aus unserem Zimmer im Hotel Duna konnten wir jenseits der Donau die Mündungsfeuer aufblitzen sehen. Bald darauf erschienen sowjetische Panzer, sie mussten aus Westen gekommen sein, schon während der Nacht, während die Sowjets mit Maleter noch über einen Abzug ‚verhandelten‘. Als der erste Schuss fiel, wurde Maleter verhaftet. Zehn Minuten bevor das Hotel von den Sowjets abgeriegelt wurde, holte uns der französische Journalist Michel Gorday vom France Soir in die Französische Gesandtschaft nahe dem Heldenplatz.“

Alle ausländischen Journalisten und Diplomaten wurden auf das Herzlichste empfangen, man teilte alle Vorräte, „schlief auf dem Boden, und zu jeder Tagesstunde hörte man Radio, die Nachrichten aus der freien Welt, die jetzt so unerreichbar fern schien. Ohnmächtig mussten wir in den nächsten Tagen mit ansehen, wie der Kampf der ungarischen Freiheitskämpfer in Blut und Qualm erstickte. Vier Tage Artillerie- und Panzerfeuer des Abends, nachts und morgens. In rhythmischen Abständen Ultimaten, die Waffen niederzulegen, sonst würde die Stadt durch Bomben dem Erdboden gleichgemacht. Aber kein Ungar, der noch ein Gewehr und eine Patrone im Lauf hatte, dachte an Kapitulation. Der Luftangriff blieb aus. Es schien, als scheuten die Sowjets vor dem Äußersten zurück. Sie schossen auf Schlangen vor Lebensmittelgeschäften, auf Rotkreuzautos, manchmal auf alles, was sich bewegte. Die Zahl der Opfer ist schwer festzustellen, die geringste Schätzung liegt bei 13.000 für die ganze Zeit.“

Beim ersten Verhör hatten die Sowjets Löwenstein den Diplomatenpass abgenommen. „Wie kann ein Journalist sein Diplomat?“, hatte man ihn gefragt, und Löwenstein antwortete: „Das fragen Sie vielleicht Herrn Schepilow. Früher war er Chefredakteur der Prawda, jetzt ist er sowjetischer Außenminister.“ Schließlich bekam Löwenstein, den man der Spionage beschuldigte, seinen Pass zurück und die sowjetische Ausreiseerlaubnis. Mit einem Konvoi gelangte er mit Zühlsdorff und den anderen Journalisten und Diplomaten in die Freiheit. Auf der Fahrt durch Budapest „grüßten und winkten die Leute – unbekümmert um Panzer und AVO. ‚Vergesst uns nicht, kommt wieder, kommt wieder! Gott schütze Ungarn!‘“

ASTRID VON PUFENDORF, 69, Historikerin und Publizistin, lebt in Düsseldorf. Löwensteins Assistent Volkmar Zühlsdorff ist vor wenigen Tagen im Alter von fast 94 Jahren verstorben