Die Bildungskaskade

Hauptschüler zahlen keine Unigebühren. Dachte man. Nun stellt sich heraus: Abiturienten drängen geringer Qualifizierte aus den Lehrstellen

VON CHRISTIAN FÜLLER

Elke besucht ein Gymnasium in Thüringen und hat gute Noten. Sehr gute sogar. Das Ziel der 17-Jährigen ist die Universität, sie will studieren. „Nein, ich werde nicht sofort an die Uni gehen“, erzählt sie dennoch, „ich möchte erst mal eine Lehre absolvieren.“ Warum schreibt Elke sich nicht an einer Hochschule ein? Das Land sucht händeringend Akademiker. Auch wären ihre Job- und Verdienstchancen als Studierte um ein Vielfaches höher denn als ausgelernte Auszubildende. „Ich habe keine Lust, Studiengebühren zu bezahlen und mit Schulden ins Leben zu starten“, sagt sie.

Der Fall Elke wird gern als Besonderheit der hiesigen universitären Kultur angesehen. Weil die Bundesländer sukzessive Studiengebühren einführen, droht ein Knick in der Studierneigung. In Nordrhein-Westfalen etwa, wo die Zahl der Studienanfänger wegen der Gebühren gerade um 5,3 Prozent sank, winkte Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) ab: Ein momentaner Effekt, der gar nicht hauptsächlich mit dem Bezahlstudium zu tun habe.

Für die Hochschulen mag das stimmen. Inzwischen macht sich der Gebühreneffekt aber an anderer Stelle bemerkbar: Bei den Jobchancen von Hauptschülern. Durch Abiturienten, die vor dem Studium noch schnell eine Lehre machen, entsteht ein Verdrängungseffekt, der sich durchs ganze Bildungssystem hindurchzieht. Die Gymnasiasten kicken die Realschüler aus den Lehrstellen. Die wiederum machen den Hauptschülern das Leben schwer – denn sie okkupieren Vorbereitungskurse für Lehrstellen, die für geringqualifizierte Schulabgänger gedacht waren. Gestern waren die 50.000 Jugendlichen, die aktuell noch ohne Lehrstelle sind, wieder Krisenthema im Bundestag.

Eine Treppe kehrt man von oben nach unten. Das gilt leider auch für die Stufen des Bildungssystems: Die Studienanfängerzahlen sinken erkennbar. Gleichzeitig steigt die Zahl der Abiturienten auf dem Lehrstellenmarkt um 4 Prozent, die der Fachabiturienten um satte 20 Prozent. Das sind neue Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Wer genauer hinsieht, entdeckt eine Kaskade, die nach unten immer breiter wird: Die Zahl der von Ausbildungsbetrieben abgelehnten Hauptschüler stieg von 2005 auf 2006 um 130 Prozent. Im sogenannten Einstiegsqualifizierungsjahr – einem einjährigen Eingliederungspraktikum für gering Qualifizierte – tummeln sich inzwischen zu mehr als 50 Prozent Jugendliche mit Realschul- oder höheren Abschlüssen. Das heißt: Ausgerechnet die Benachteiligten sind die ersten Verlierer der Studiengebühren.

Ursprünglich war das Einstiegsqualifizierungsjahr für junge Menschen in besonders prekärer Lage gedacht. Ziel ist es, Jugendlichen mit „eingeschränkten Vermittlungschancen eine Chance zum Einstieg in Ausbildung“ zu geben – so die offizielle Definition des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von Franz Müntefering (SPD). Der hat gerade den Begriff der Unterschicht abgelehnt, weil er die Gesellschaft nicht in Schichten einteilen will. Die Wahrheit ist eine andere: Genau jenes Programm, auf das Müntefering setzt, schließt Bildungsarme aus: Der Anteil der Teilnehmer am Einstiegsqualifizierungsjahr, die keinen oder nur einen Sonderschulabschluss haben, liegt bei kümmerlichen 3,7 Prozent, so ein Bericht des Arbeitsministers.

Die Experten bestätigen die Befürchtungen. Abiturienten fliehen vor den Studiengebühren auf den Lehrstellenmarkt, wo ihre Zahl plötzlich ansteigt. „Die Steigerungen ergaben sich zum größten Teil in Ländern, die Gebühren eingeführt oder angekündigt haben“, sagte eine Sprecherin der Arbeitsagentur dem Handelsblatt. Und der Bildungsökonom Dieter Dohmen weiß, warum. „In sozial schwachen Familien herrscht eine ausgesprochene Angst vor Verschuldung durch Gebühren“, sagt er der taz. „Oft lassen sich die Jugendlichen allein durch das Schreckgespenst Gebühren vom Studium abhalten.“

Während eine Lehrstelle für Abiturienten aber nur eine Ehrenrunde zur persönlichen Sicherheit ist, wirkt sich ein verlorenes Jahr für Hauptschüler dramatisch aus. Ihr Zeitfenster für die Lehrstellensuche ist eh nur kurz geöffnet. Bekommen sie diesen Herbst nichts, gehören sie kommendes Jahr schon zu den chancenlosen Altbewerbern. Fast 60 Prozent der aktuell 50.000 jugendlichen Stellensuchenden sind vergangenes Jahr schon einmal gescheitert.

„Für die Jugendlichen, die heute schon als kaum vermittelbar gelten, wird die Luft noch dünner“, sagt Dieter Dohmen. Der Leiter des Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie meint die 10 Prozent jedes Jahrgangs, die ohne Abschluss bleiben. Und jene, die kaum über ausreichende Lese- und Schreibkompetenz verfügen. Dohmen geht von bis zu einem Viertel der Lehrstellensuchenden aus. Diese Gruppe wird vom Zustrom der Abiturienten aus der Bahn geworfen, die wie Elke doch nur Gebühren vermeiden wollten.

Mitarbeit: C. Gerken, F. Hollenbach