Schwerstarbeit am Geschmack

Kritik der Kritik (Schluss): Das Feld ist ausdifferenziert. Was bleibt? Kultur braucht keine Rückkehr zur großen Erzählung, sie lebt auch nicht von Homestorys oder dem Hohelied der Theorie. Eine Gebrauchsanweisung für das Raumschiff Kulturkritik

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

von DIRK KNIPPHALS

Das war die längste Artikelreihe, die die taz-Kultur je gemacht hat (jedenfalls solange diejenigen, die gerade hier arbeiten, sich erinnern können). Es hat schon Frotzeleien gegeben, ob wir diese Reihe nicht auf Dauer stellen wollen – als never ending Selbstreflexion oder zumindest als kontinuierliches Begleitrauschen der alltäglichen Rezensionsarbeit. Aber praktikabel wäre so etwas natürlich nicht.

Michael Rutschky begann die Reihe vor gut vier Monaten. Er setzte ein mit einer Erinnerung an die Zeit, als Kritik noch die Welt retten konnte – 1968ff. –; zugleich lieferte er Hinweise auf die Zusammenhänge, weshalb diese große Erzählung vom gesellschaftlich erzeugten falschen Bewusstsein und seiner kritischen Durchdringung schon immer eine Illusion war. Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann standen als Chiffren dafür, dass es den souveränen Ort, von dem aus die Kritik unbehelligt die Gesellschaft und ihre Künste beobachten und durchdringen kann, schlicht nicht gibt (taz vom 11. Juli 2006).

Wenn man die in dieser Artikelserie erschienenen Beiträge noch einmal durchblättert, kann man feststellen, wie gründlich diese große ideologiekritische Erzählung zerbrochen ist – zusammen mit der anderen, der eher affirmativen bürgerlichen Erzählung, dass sich die Kritik mit den guten Künsten verbünden müsse, um die Humanität zu schützen und vor dem Rückfall in die Barbarei zu bewahren. Aber was ist an ihre Stelle getreten? Jedenfalls kein Kniefall davor, wie die alten Semester sungen, und kein Selbstverständnis, das sich als defizitär gegenüber früheren Ansprüchen begreift (nur in einigen Beiträgen schwingt ein Phantomschmerz im Hinblick auf die großen Erzählungen mit).

Stattdessen legten die meisten AutorInnen dieser Reihe Berichte aus der Praxis vor; und siehe! – jeder einzelne künstlerische Bereich induziert seine eigenen, kaum verallgemeinerbaren Problemstellungen. Theaterkritiker schlagen sich mit anderen Herausforderungen herum als Popkritiker, und die Sorgen der Kunstkritik – derzeit zu viele Learjets in der Luft – möchte mancher Literaturkritiker zumindest einmal in seinem Leben gehabt haben.

Abgeschritten und besichtigt wurde also ein stark ausdifferenziertes Feld. Aber vielleicht gibt es doch eine Tendenz, wenigstens einen kleinen gemeinsamen Nenner: die Kritik als Kritik wieder mehr ins Zentrum zu rücken. Dazu einige Anmerkungen, die aber nicht als Versuch eines Fazits zu verstehen sind. Das würde über das jeweils Spezifische der einzelnen Beiträge zu platt hinwegsprechen. Eher sind es Beobachtungen eines Redakteurs, der die Reihe initiiert und eng begleitet hat, ausgerichtet auf mögliche Folgerungen für ein aktuelles Selbstverständnis als Kritiker.

Erstens: Auf neue Metatheorien oder Rahmendiskurse hat sich kein Beitrag dieser Reihe berufen, jedenfalls nicht explizit. Das ist nicht selbstverständlich, denn in manchen Kulturbegleitagenturen wirft man nur so mit ihnen um sich. Die Kulturpolitik erzählt von „Verflüssigungen“ oder der „Stadt als Bühne“, und sie stellt ganze Sinnstiftungsszenarien durch die Künste auf. In vielen Theaterdramaturgien wird die neue soziale Frage bewegt, und ein Denker wie Giorgio Agamben wird – wie immer man inhaltlich zu ihm stehen mag – in vielen Programmheften mit Prunkzitaten ausgeschlachtet, um ein wenig auratischen Großdenkerglanz auf seine eigene Produktion rieseln zu lassen.

Alle diese Diskurse haben den Vorteil, dass sie von Relevanz künden; sie sind geeignet, die Kunst zu legitimieren (deshalb sind sie auch besonders nützlich bei subventionierten Kunstformen; mit irgendwas muss man das Geld ja begründen können). Als Kritiker aber ist es offensichtlich nicht gut, sich von solchen Relevanzerzählungen, die im Grunde nur neue Angebote für neue große Erzählungen machen, beeindrucken zu lassen. Das bedeutet keinesfalls eine notwendige Theorieferne der Kritik, eher geht es um eine kritische Einstellung auch zur Theorie. Ihre Angebote kann man wie Werkzeuge benutzen, und man kann prüfen, welches davon in dem jeweils speziellen Fall des zu kritisierenden Kunstwerks gerade gut passt – und welches nicht. Es geht in der Kritik ja gerade darum, den jeweiligen Einzelfall eines Werkes, eines Songs oder einer Inszenierung auf ihre Stimmigkeit abzuklopfen; aus den Begleitdiskursen muss man dazu gelegentlich die Luft rauslassen.

Zweitens: Da und dort tauchte in dieser Serie das Debattenfeuilleton als natürlicher Gegner der Kritik auf, genau wie Porträt, flotter Rahmenessay und Homestory. Den Fluchtpunkt der Überlegungen bilden eindeutig die Gegenstände, sprich: die Kunstwerke, zu ihnen hin soll die gedankliche Anstrengung (wieder) gehen. Daran, dass es in den einzelnen Kunstsparten genügend interessante Gegenstände gibt, hat niemand Zweifel geäußert. Im Gegenteil: Gelegentlich wurde eher der Eindruck vermittelt, man habe als Kritiker alle Mühe, in der Flut möglicher Besprechungsanlässe den Kopf oben zu behalten.

An genau dieser Diagnose wird sich ein jeder Kritiker messen lassen müssen. Er hat eine Gatekeeper-Funktion, indem er aus der Fülle des Angebots die innovativen von den langweiligen Ansätzen unterscheidet. Er hat aber, auch wichtig, zudem eine Unterhaltungsfunktion. Wie spannend und wie interessant es ist, sich im Bereich der Kunst zu tummeln, sollte man seinen Kritiken entnehmen können.

Dies ist gegen ein Business-as-usual-Rezensionswesen gesagt, aber auch dagegen, sich als Kritiker allzu sehr in einen Gegensatz zu den Debatten bringen zu lassen. Wenn das Interessantmachen der Gegenstände gelingt, braucht man das Rad auch nicht hinters Debattenfeuilleton zurückzudrehen. Ein selbstbewusstes Danebentreten ist eher angesagt. Die schönsten Debatten sind sowieso die, die sich direkt aus künstlerischen Ansätzen ergeben. Noch etwas: Zum Interessantmachen der Gegenstände hilft es gar nichts, immer nur „Toll!, toll!, toll!“ zu rufen. So etwas nutzt sich schnell ab.

Drittens: Das Publikum kam in dieser Serie direkt gar nicht vor. Implizit aber schon. Die Beiträge setzten eben voraus, dass es genügend Menschen gibt, die ein Interesse an Wahrnehmungsübungen in asiatischen Filmen und an Gesellschaftsbeschreibungen in arabischen Romanen haben; die sich so weit in aktueller Kunst wie im gegenwärtigen Kinoprogramm auskennen, dass sie eine Überschrift wie „Der Teufel sammelt Jeff Koons“ dekodieren können; die Spaß an ironischen Blicken auf intellektuelle Spreizungen haben; und die sich die neuesten Songs selbstverständlich schon vor dem VÖ aus dem Netz saugen.

Mit der lange Zeit eingeübten Klage über die Unbildung und den Unwillen des Publikums verträgt sich das keineswegs. Sie trifft aber sowieso nicht mehr auf die Realität des heutigen Kulturlebens zu. An die Stelle des bildungsbürgerlich formierten Publikums ist eine Menge (eben nicht: „Masse“) von Kulturkonsumenten getreten, deren Bildungsgrad nicht zu unterschätzen ist. Allerlei Experimente sind bei ihnen möglich: Heute sammeln sie sich in der Philharmonie, morgen in einer Comic-Ausstellung.

Worum es zwischen diesem Publikum und der Kritik gehen könnte, lässt sich vielleicht ganz gut mit einem etwas altertümlichen Wort beschreiben: eine arbeitsteilig bearbeitete, aber doch gemeinsam vorgenommene Geschmacksbildung. Dabei gibt es Fragen wie: War Pop an diesem oder jenem Punkt nicht schon einmal weiter? Was bedeutet eigentlich das viele Blut auf der Bühne – sind das nicht bloß theatralische Beeindruckungsgesten? Muss ein Roman nicht zwangsläufig authentische Erfahrungen bearbeiten? Die Aufgabe der Kritik könnte gerade sein, ein interessiertes Publikum mit interessanten Fragen zu versorgen.

Viertens: Wenn das alles so ist, wenn Kritik darin besteht, aus Begleitdiskursen gelegentlich die Luft rauszulassen, die Gegenstände, die es verdienen, interessant zu machen und das Publikum mit interessanten Fragen zu versorgen – ist die Kritik dann nicht der Ort, an dem sich das alles trifft: Diskurs, Gegenstand und Publikum!? Das erklärt einerseits, warum die Kritik immer zwischen den Stühlen sitzt. Andererseits klingt das aber auch fast zu schön, um wahr zu sein. Und doch ist da etwas dran.

Im Einzelfall kann man als Kritiker diese hehren Ansprüche immer verfehlen – man kann einem aufgeblasenen Diskurs aufsitzen (oder einen Diskurs unterschätzen), man kann seinen Gegenstand zu hochjubeln (oder zu gelassen ihm gegenüber sein), und man kann das Publikum unterschätzen (oder doch zumindest falsch einschätzen). Wenn es aber gelingt, kann man alles drei zusammenführen – womit wir, auch wenn dieser Artikel nun ein bisschen zu glatt aufgeht, den Bogen zurück schlagen können. Die großen Erzählungen haben ja behauptet, dass die Bereiche des Diskurses, des Gegenstandes und des Publikums von vornherein verbunden sind. Nach ihrem Ende müssen die Kritiker vielleicht selbst Erzählungen anbieten, die das leisten, jede Saison aufs Neue, und manchmal kommt man dann mit so einer Erzählung sogar durch!