„Presserat läuft Slalom“

Eine „merkwürdige Kultur der Nichtverantwortung“ bescheinigt Journalistik-Professor Michael Haller deutschen Redaktionen. Er fordert mehr Selbstkontrolle beim grassierenden „PR-Journalismus“

Interview Peter Nowak

taz: Herr Haller, Sie haben über die journalistische Unabhängigkeit von Tageszeitungen geforscht. Gibt es heute in den Medien noch eine unabhängige Meinung jenseits der Werbeabteilung?

Michael Haller: Natürlich gibt es auch heute unabhängigen Journalismus. Bei den rein werbefinanzierten Medien würde ich indessen ein großes Fragezeichen setzen. Abstufungen gibt es aber nicht nur zwischen den Medien, sondern selbst innerhalb der Redaktionen. Wenn Sie die Süddeutsche nehmen, dann werden Sie im redaktionellen Teil der Tageszeitung unabhängige Aussagen überzeugend vertreten finden. Bei einigen ihrer Beilagen ist das schon wesentlich schwieriger, selbst wenn sie nicht als „Verlagsbeilage“ gekennzeichnet sind. Und bei kleinen Regionalzeitungen gibt es oft Tabuverhalten: Man verschweigt Unangenehmes, um den Werbekunden nicht zu vergrätzen.

Auf der Tagung der Deutschen Journalistenunion war viel von Selbstregulierung die Rede. Kann man damit wirklich PR-Journalismus verhindern?

Wir müssen die Frage nach den Möglichkeiten stellen, die uns zur Eindämmung der PR-Beeinflussung in den Medien zur Verfügung stehen. Es wäre illusionär anzunehmen, dass der Gesetzgeber über die Landesmediengesetze hinaus die publizistische Unabhängigkeit der Redaktionen rechtswirksam fixieren würde. Deshalb bleibt uns gar nichts übrig, als die selbstregulatorischen Mechanismen zu stärken.

Sind bestehende Institutionen wie der Presserat nicht doch eher zahnlose Tiger?

So zahnlos auch wieder nicht. Das sieht man an den Reaktionen der Medien, die vom Presserat gerügt werden. Wenn eine Beschwerde gegen ein Springer-Produkt verhandelt wird, dann setzt der Axel Springer Verlag schon mal hochkarätige Juristen in Marsch, die mit allen gebotenen Mitteln zu verhindern trachten, dass ihrem Blatt – fast immer geht es um die Bild-Zeitung – eine Rüge erteilt wird. Bild-Chef Kai Diekmann scheut die Rüge wie der Teufel das Weihwasser. Denn Rügen sind Ausdruck für journalistischen Sittenverfall.

Aber ein wirkliches Druckmittel sind sie doch nicht?

Freilich sind dem Presserat auch enge Grenzen gezogen. Sein Beschwerdeausschuss muss zwischen verschiedenen Interessen lavieren und Kompromisse finden. Die Seite der Verleger etwa ist nicht daran interessiert, dass eine umsatzfördernde Berichterstattung über den Intimbereich von Prominenten behindert wird, auch wenn es um Persönlichkeitsrechte geht. In solch einem Fall wird gleich von der bedrohten Pressefreiheit geredet. Dass hier oft laviert wird, sieht man daran, dass der Beschwerdeausschuss des Presserats inkonsistent entscheidet. Man braucht nur die Entscheidungen der letzten zehn Jahre zur Verletzung religiöser Gefühle durch Presseartikel zu lesen. Das ist ein wahrer Slalomlauf. Oder auch über den werblichen Charakter von redaktionell publizierten PR-Texten. Die jeweiligen Kompromisse sind stark vom Zeitgeist geprägt.

Sie betonen die Rolle des einzelnen Journalisten bei der Verteidigung der Unabhängigkeit der Medien. Wird da nicht die Verantwortung auf Medienarbeiter in oft prekären Arbeitsverhältnissen abgewälzt?

Es ist natürlich nur zu begrüßen, wenn sich Berufsverbände wie die Deutsche Journalistenunion für die Interessen der Redaktionsmitglieder starkmachen. Das darf aber kein Tarnmantel für Verantwortungslosigkeit auf mittlerer und oberer Ebene sein. Ich denke hier an die Ressortleiter, die CvDs und Chefredaktionen. Gerade bei vielen nachwachsenden Redakteuren findet sich hier in Deutschland eine merkwürdige Kultur der Nichtverantwortung. Sie sind zwar mächtig stolz, namentlich im Impressum zu stehen, haben aber oft noch nicht einmal im Pressegesetz nachgeschlagen, welche Verantwortung sie damit zu übernehmen haben.

Was bedeutet hier denn Verantwortung?

Einfach gesagt: Die Folgen der eigenen Entscheidung weit über die strafrechtlichen Bestimmungen hinaus tragen zu können – zum Beispiel die mit der Veröffentlichung eines bestimmten Beitrags oder einer bestimmten Schlagzeile verbundenen Folgen für die Objekte der Berichterstattung. Oder die Wirkung einer Gewaltdarstellung auf junge Zuschauer. Selbst Redakteure von Fachzeitschriften realisieren ihre Verantwortung oft nur gegenüber dem Eigentümer, der wirtschaftliche Erfolge wünscht und im Journalismus nur einen Kostenfaktor sieht. Das aber hat nichts mit der für den Journalismus zentralen publizistischen Verantwortung zu tun. Und die ist unter deutschen Redaktionsleitern ebenso unterentwickelt wie die Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen.