Angela, geh du voran!

VON SABINE HERRE

1. Hat Angela Merkel ein „Leitmotiv“ für ihre Ratspräsidentschaft?

Ja. In den zahlreichen Reden, die die Bundeskanzlerin in letzter Zeit über die EU hielt, tauchte immer wieder ein Satz auf: Man müsse, so Merkel, die EU „neu begründen“. Was sie damit meinte, war jedoch zunächst unklar und kristallisierte sich erst langsam heraus. Bei einer Grundsatzrede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zum Beispiel. Dort machte sie vier Bereiche aus, in denen der „Mehrwert“ der EU deutlich werde: in der Außenpolitik, der Handelspolitik, der Energie- und der Klimapolitik. Die Zuhörer reagierten überrascht. Man hatte erwartet, dass die Kanzlerin in einer Grundsatzrede über die EU die Verfassung zum bestimmenden Thema machen würde, stattdessen sprach sie von sterbenden Eichen in Mecklenburg-Vorpommern. Und vom Wetter.

2. Ist Energiepolitik – und nicht etwa die Verfassung – das wichtigste Thema der Ratspräsidentschaft?

Ja. Zumindest bis zum Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs am 8. März. Dort soll ein Energie-Aktionsplan verabschiedet werden, bei dem es vor allem ums Energiesparen und erneuerbare Energien geht. Zugleich hängen Klimawandel und Verfassung aber auch zusammen. „Die Energiepolitik“, so Kommissionspräsident Barroso vor dem Europaausschuss des Bundestags, sei einer der new drivers der EU-Integration. Gemeint ist damit Folgendes: Bisher sind für die Energiepolitik die Nationalstaaten und nicht Brüssel zuständig. Wenn man aber eine gemeinsame Politik in diesem Bereich für nötig hält, müssen die Staaten auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten und Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen – das sieht im Übrigen auch die Verfassung vor. Und genau da fangen dann wieder die Probleme an. So hätte die Kommission gern einen Energieregulator für die gesamte EU, aber viele nationale Regierungen, so auch die deutsche, lehnen dies ab. Einig sind sich die Mitgliedsstaaten nur in einem: Man braucht eine gemeinsame Energieaußenpolitik gegenüber dem wichtigsten Energielieferanten: Russland.

3. Wer wird versuchen, die EU-Politik Merkels zu behindern?

Wladimir Putin – und er muss nicht einmal viel dafür tun. Die Verhandlungen über ein neues PKA, ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und der EU, werden von Polen blockiert. Läuft es Ende 2007 aus, verlängert es sich automatisch um ein Jahr. Putin kann sich also zurücklehnen und abwarten, ob die EU in der Lage sein wird, eine gemeinsame Strategie gegenüber Russland zu entwickeln. Bisher ist man da noch ganz am Anfang und redet viel darüber, ob „Interessen“ oder „Werte“, konkret: Energieversorgung oder Menschenrechte, diese Strategie leiten sollen. Während sich also immer mehr russische Unternehmen in westliche Firmen einkaufen, diskutiert die EU, ob sie von Moskau fordern kann, dass sich auch russische Energiefirmen westlichen Investoren öffnen.

4. Wo könnte die deutsche Präsidentschaft wegweisend sein?

Angela Merkel und vor allem auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier haben sich viel vorgenommen. Sie wollen nicht nur das Partnerschaftsabkommen mit Russland neu aushandeln, sondern zugleich auch Vorschläge für eine neue „Nachbarschaftspolitik“ präsentieren. Unter Nachbarn versteht die Bundesregierung vor allem diejenigen im Osten: die Ukraine, Weißrussland und Moldawien, aber auch Georgien, Armenien und Aserbaidschan. All diesen Staaten soll eine Alternative zum EU-Beitritt geboten werden. Konkret: von Investitionshilfen über eine Freihandelszone bis hin zur Beteiligung an der gemeinsamen EU-Außenpolitik.

Die Frage jedoch ist, wie Russlandvertrag und Nachbarschaftspolitik zusammenpassen. Schließlich will die EU gerade die Staaten enger an sich binden, die der Kreml als seine Einflusssphäre betrachtet. Daher ist der Bundesregierung die polnische Blockade der Neuverhandlungen des Partnerschaftsabkommens vielleicht nicht ganz unrecht – so kann man Zeit gewinnen. Wenn die Nachbarschaftspolitik gelingt, hat man eines der Hauptprobleme der EU gelöst: Wie geht man mit all den Staaten um, die in die Union drängen, diese aber sprengen könnten? Schließlich hat auch Marokko schon einen Aufnahmeantrag gestellt. Und vielleicht findet sich im Rahmen der Nachbarschaftspolitik ja auch eine Lösung für die Türkei.

5. Wird die Türkeifrage die große Koalition am Ende noch spalten?

Nein. Erstens weil die Fronten weitaus weniger klar sind als allgemein angenommen. So gibt es unter den außenpolitischen Strategen der CDU durchaus Politiker, die die Türkei als notwendige Brücke zur muslimischen Welt sehen, und unter den SPD-Europapolitikern einige, die meinen, dass die EU durch die Aufnahme der Türkei überfordert würde. Zweitens ist das Besondere einer Ratspräsidentschaft ja gerade die Vermittlerrolle; eine eigene nationale Position und erst recht nationaler Streit muss da zurückstehen.

6. Was könnte zum größten Problem Angela Merkels werden?

Das Kosovo. Anfang des Jahres wird UN-Sonderbeauftragter Marti Ahtisaari seinen Vorschlag für den künftigen „Status“ der serbischen Provinz vorlegen. Dass Belgrad einer weitreichenden Unabhängigkeit des Kosovo zustimmt, erwartet eigentlich niemand. Kommt es also zu Unruhen, gar zu einem neuen Krieg? Michael Schäfer, Politischer Direktor im Auswärtigen Amt, hat deutlich gemacht, dass Belgrad sich endlich entscheiden muss, ob es zu Europa gehören will oder nicht. Daher solle Serbien „sichtbare Anreize“ für eine Integration bekommen – was bei der EU zunächst immer „finanzielle Anreize“ bedeutet. Doch selbst wenn die Loslösung des Kosovo ohne größere Probleme vonstatten geht, steht die EU in der Verantwortung: Sie wird ihre bisher größte zivile Mission auf den Balkan entsenden. Aufgabe der 900 bis 1.000 Frauen und Männer: Aufbau eines neuen Staates.

7. Warum kommen schon jetzt so viele Politiker aus Portugal und Slowenien nach Berlin?

Bei dieser Ratspräsidentschaft gibt es eine Premiere. Erstmals wird etwas umgesetzt, was eigentlich erst die Verfassung vorsieht: die so genannte Dreierpräsidentschaft. Das heißt: Die Bundesregierung entwirft zusammen mit den Staaten, die in den nächsten 12 Monaten die Präsidentschaft übernehmen, ein gemeinsames Programm. Das kann man für belanglos halten, tatsächlich bedeutet es aber, dass die große Koalition für einen viel längeren Zeitraum die weitere Entwicklung der EU beeinflussen kann.

8. Und was ist jetzt mit der Verfassung? Ist sie tot?

Zumindest ist die Bereitschaft der Bundesregierung, sie nicht sterben zu lassen, groß. Das „Zeitfenster“, wie es im Politjargon heißt, ist freilich klein. Da man vor den Wahlen in Frankreich im Mai jede öffentliche Verfassungsdebatte vermeiden will, bleiben nur wenige Tage, um Mitte Juni beim EU-Gipfel konkrete Vorschläge für die Wiederbelebung vorzulegen. Dennoch werden natürlich die unterschiedlichsten Möglichkeiten diskutiert. Klar scheint dabei bisher Folgendes: Man kann Franzosen und Niederländer den einmal abgelehnten Text nicht erneut zur Abstimmung vorlegen. Zugleich aber haben 18 Staaten die Verfassung ratifiziert, auch hier gab es zwei Volksabstimmungen. Und warum sollte etwa das Votum der Spanier weniger wert sein als das der Franzosen? Daher soll, so die Formulierung, das „Paket nicht aufgeschnürt“ werden, was bedeutet, dass kein neuer Text geschrieben wird. Erhalten bleiben soll die „Substanz“ der Verfassung. Was das aber heißt, darüber wird nun heftig gestritten. Herauskommen wird wohl ein Text, der knapper ist als der jetzige und den man dann auch nicht mehr Verfassung, sondern vielleicht noch Grundgesetz oder auch nur Vertrag nennt. Fertig werden soll er nach Vorstellungen Merkels bis Ende 2008, Verfassungsexperten halten dies jedoch für eine sehr optimistische Erwartung.

9. Was ist die „Berliner Erklärung“, von der Merkel so häufig spricht?

Das weiß im Moment noch niemand. Sicher sind nur zwei Dinge: Die Erklärung soll Höhepunkt der Feiern zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge – also zum Geburtstag der EU – am 25. März in Berlin sein und sich weniger mit der Vergangenheit und mehr mit der Zukunft der EU befassen. Womit man wieder bei Merkels „Neubegründung“ wäre. Antwort auf die Globalisierung, europäisches Sozialmodell, Terrorbekämpfung, Europas Verantwortung in der Welt: hier wird mit den ganz großen Textbausteinen gespielt, nur wie man sie zusammensetzt, das weiß man eben noch nicht. Unklar ist auch, inwieweit Parlamente, NGOs und auch die Bürger bei der Erstellung der Erklärung einbezogen werden, schließlich will man mit dem Text ja gerade die Bürger von Sinn und Zweck der EU überzeugen. Und so gibt es nicht wenige, die die Bedeutung der Erklärung herunterschrauben. Was man brauche, seien konkrete Projekte, nicht große Worte.

10. Wird Angela Merkels Ratspräsidentschaft ein Erfolg?

Die Erwartungen der anderen EU-Staaten an die Deutschen sind hoch. Nach Luxemburg, Großbritannien, Österreich und Finnland führt nun endlich wieder ein großes Land, das stets weitere Integration befürwortete, die Union. Doch die Lage – Russland, Kosovo, Verfassung – ist schwierig, und konkrete Erfolge wird es nur wenige geben. Daher soll es vor allem darum gehen, die Atmosphäre zu verbessern. Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer zur Verfassung befindet sich Europa weiterhin in einem Zustand des Zweifels. Zentrale Frage ist daher, ob die 27 Staats- und Regierungschefs im März in Berlin den gleichen Mut aufbringen, wie ihn die 6 Chefs vor 52 Jahren hatten. In der Erklärung von Messina heißt es: „Die Regierungen von Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden sind der Ansicht, dass die Zeit reif ist für einen neuen Schritt beim Aufbau Europas …“