Die armen Kinder!

Die Nachrichten über Kinder, die beim Nachspielen der Hinrichtung von Saddam Hussein ums Leben gekommen sind, berichten uns vor allem vom Hadern einer globalisierten Medienwelt mit sich selbst

VON ARNO FRANK

Nur zwei Minuten, dann ist alles vorbei. Selten aber dürfte ein so schäbiges kleines Filmchen wie das von der Hinrichtung des Saddam Hussein weltweit eine so rasende Verbreitung gefunden haben. Innerhalb von drei Tagen wurde es in den entsprechenden Internet-Foren rund 110 Millionen Mal angeklickt, von Handy zu Handy verschickt, als Standbild in Zeitungen abgedruckt und von den meisten Fernsehsendern in Teilen oder zur Gänze ausgestrahlt. Und nun sollen diese zwei Minuten schon neun Kindern, die Saddam hatten hängen sehen und die Szene nachspielen wollten, zum tödlichen Verhängnis geworden sein?

Drei Fälle sind jedenfalls überraschend gut dokumentiert. In Saudi-Arabien wurde ein Zwölfjähriger, der laut Aussage seines Vaters tagelang von dem im Fernsehen gezeigten Video der Hinrichtung fasziniert gewesen sei, erdrosselt an einem metallenen Türknauf aufgefunden; in den USA erhängte sich ein Zehnjähriger am Hochbett in seinem Kinderzimmer an einer Schlinge, die er sich aus einem Pullover und einem Hemd gelegt hatte, nachdem ihn laut Aussage eines Onkels die Hinrichtung im Fernsehen zuvor „sehr beschäftigt“ habe; von einem „tödlichen Spiel“ im Zusammenhang mit dem Saddam-Video gehen die Ermittler auch in Pakistan aus, wo sich ein Zehnjähriger im Beisein seiner Schwester an einem Deckenventilator aufknüpfte.

Jede dieser Tragödien wäre – für sich betrachtet – höchstens ein Thema für die jeweiligen Lokalmedien. Zur weltweiten Nachricht werden diese drei fast identischen Szenarien an drei weit voneinander entfernten Orten erst dann, wenn sie zu einer einzigen Nachricht gebündelt und auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden: den naiv-kindlichen Konsum des verderblichen Saddam-Videos, weltweit in Endlosschleife verbreitet von den verantwortungslosen Medien.

Deutsche Medien wie etwa die Berliner Zeitung sahen darin denn auch prompt „ein drastisches Lehrstück der globalisierten Medienwelt, in der eine Information innerhalb kürzester Zeit den Globus umkreist“. Böse Medienwelt, fiese Information, blöder Globus. Ein klassisch kulturpessimistischer Standpunkt, zu dessen Unterfütterung die steile These eines Kinderpsychologen dienen soll, die armen Kinder hätten da wohl einen „starken, erniedrigten Mann“ gesehen und sich im Spiel „instinktiv mit ihm solidarisiert“.

Der Mannheimer Medienwissenschaftlerin Angela Keppler, die in ihrem Buch „Mediale Gegenwart“ unlängst eine „Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt“ aufgestellt hat, sind solche angeblichen Nachahmungstaten verdächtig: „Damit muss man sehr vorsichtig sein“, sagte sie der taz. Schon nach dem Selbstmord von Marylin Monroe sei dessen angebliche Vorbildfunktion für andere Selbstmordkandidatinnen wissenschaftlich überprüft worden – ohne jedes Ergebnis.

„Bis heute gibt es keinen Beleg dafür“, so Keppler, dass mediale Inhalte zu einem signifikanten Anstieg entsprechender Nachahmungstaten in der Realität führten. Denn die Realität sei in der Regel zu kompliziert, als dass sie sich auf einen so simplen Mechanismus reduzieren ließe. „Wir wissen doch viel zu wenig über Dinge wie das familiäre Umfeld dieser Kinder“, sagt Keppler und warnt davor, nachträgliche Erklärungen von Familienangehörigen ungeprüft für bare Münze zu nehmen – nur weil es den Medien so in den Kram passt.

Auch der ehemalige Vorsitzende der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK), Dieter Baacke, hält solche vereinfachenden Kausalitätsketten für falsch: „Häufig ist die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen größer als bei Lehrern und Erwachsenen, die oft noch im kulturkritischen Habitus erstarrt sind.“

Bei der aufgeregten Verbreitung der Nachricht von den toten Kindern könnte überdies in diesem Sinne ein „globalisierungskritischer Habitus“ Pate gestanden haben – weil tatsächlich mit der fortschreitenden Digitalisierung die Kontrolle über Bilder und Nachrichten den traditionellen Institutionen immer mehr entgleitet. Das Wissen um diesen Teufelskreis macht die Medien natürlich nervös. So nervös, dass sie drei tote Kinder zusammentreiben, um sie als Opfer und zugleich Kronzeugen dieses Wandels auftreten lassen.