Großversuch mit Arbeitslosen

Die SPD will hunderttausende von Hartz-IV-Empfängern zu gering bezahlten Vollzeitjobs verhelfen – dahinter steht eine neue Arbeitsmoral. Ein Mindestlohn wäre besser

Die Firmen haben sich mit Niedriglöhnen eingerichtet, die staatlich oder privat subventioniert werden

Es ist der Dauerbrenner in allen Debatten um die Arbeitslosigkeit, das Gespenst, das immer wiederkehrt: der Erwerbslose, der sich angeblich einrichtet „auf Stütze“ und nebenbei schwarz ackert oder einen Minijob ausübt. Dem Gespenst zu Leibe rücken will nicht nur die Union; auch in der SPD diskutiert man jetzt ein neues Konzept, diese Leute stärker in Arbeit zu bringen. Der gering bezahlte Vollzeitjob wird zum Integrationsmodell. Und das ist neu.

Das Konzept stammt vom Wirtschaftsweisen Peter Bofinger, dem Arbeitsmarktexperten Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und von Mitautoren. Die Wissenschaftler fordern, dass die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger abgeschafft werden. Stattdessen sollen Menschen, die wenigstens 30 Stunden in der Woche ackern und damit nur zwischen 750 und 1.300 Euro brutto verdienen, eine Subvention bekommen. Diese soll aber nicht von den Arbeitsagenturen, sondern vom Finanzamt ausgezahlt werden.

Das Bestechende an der Idee: Niedrigverdiener stehen dann nicht mehr in der Statistik der Hartz-IV-Empfänger. Derzeit bekommen eine Millionen Erwerbstätige wegen zu geringen Einkommens noch ergänzendes Arbeitslosengeld II und erscheinen entsprechend in der Leistungsstatistik.

Wer nach dem Bofinger-Konzept künftig eine aufstockende Subvention erhielte, müsste sich nicht mehr als Sozialleistungsempfänger fühlen. Er oder sie wäre Kunde des Finanzamtes, der eine „Steuergutschrift“ bekommt. Von einem „psychologischen Gewinn“ spricht daher selbst die Gewerkschaft Ver.di.

Ver.di hat allerdings auch ausgerechnet, dass sich gerade Hartz-IV empfangende Teilzeitjobber mit dem Bofinger-Konzept schlechter stünden. Ihr Hinzuverdienst würde künftig fast vollständig auf das Arbeitslosengeld II (ALG II) angerechnet. Diese Schlechterstellung leugnen Bofinger und Walwei nicht: „Die im Vergleich zum Status quo deutlich eingeschränkten Hinzuverdienstmöglichkeiten sorgen dafür, dass eine Existenz sichernde Beschäftigung an Attraktivität gegenüber einem Verweilen im ALG-II-Status gewinnt.“

Das Bofinger-Modell wäre somit eine Art Großversuch am lebenden Arbeitslosen. Man kappt einerseits die Hinzuverdienstmöglichkeiten, gibt andererseits Geld für einen schlecht bezahlten Vollzeitjob dazu und versucht so, hunderttausende Langzeiterwerbslose in die Kategorie der Niedrigverdiener zu verschieben. Der mies bezahlte 30-Stunden-Job auf dem ersten Arbeitsmarkt wird zum Hoffnungsträger, zum Wundermittel sozialer Integration.

Das war vor mehr als zehn Jahren noch anders: Damals forderte Sozialminister Norbert Blüm (CDU) allerorten, mehr Teilzeitstellen einzurichten, damit Arbeit auf allen Qualifkationsebenen unter die Menschen breiter verteilt werden könne. Doch heute werden nicht weniger Arbeitsstunden und Konsumverzicht gefordert, sondern mehr Einsatz auch gegen Niedriglohn. Das Bofinger-Papier transportiert indirekt eine strengere Arbeitsmoral – dabei haben die Jobcenter längst verschärfte Sanktionsmöglichkeiten gegen vermeintlich unwillige Arbeitslose.

Eine neue Moral schafft außerdem noch keine neuen Jobs. Denn Wirtschaft ist kompliziert. Die Menschen auch. Personen, die aus den unterschiedlichsten Gründen lange Zeit keine Arbeit finden, sind keine Versuchstiere, sondern Subjekte mit einer Biografie, mit Möglichkeiten und Grenzen. Und eine Studie des früheren Instituts für Arbeit und Technik (IAT) zu sogenannten „Einfachjobs“ hat ergeben, dass auch diese Stellen bestimmte psychische und körperliche Eignungen erfordern, so etwa in der Altenarbeit und in der Gebäudereinigung – und dass diese Stellen längst über informelle Beziehungen vergeben werden.

Die aktuellen Verhältnisse sind bezeichnend: Wir haben in Deutschland rund fünf Millionen Hartz-IV-Empfänger. Davon üben aber nur eine halbe Millionen Leute nebenbei einen Minijob mit maximal 400 Euro Verdienst im Monat aus. Dabei gibt es hierzulande mehr als sechs Millionen Minijobber, meist StudentInnen, Schüler, Hausfrauen, Rentner oder Leute, die außerdem noch einen anderen Job haben. Offenbar bekommen viele Arbeitslose von den Unternehmen gar nicht die Chance, einen Minijob auszuüben, um sich dann mit der „Stütze“ und dem Hinzuverdienst „einzurichten“.

Bofinger und seine Kollegen wollen die sozialversicherungsfreien 400-Euro-Jobs nun abschaffen. Die Arbeitgeber sollen dadurch angehalten werden, mehr sozialversicherungspflichtige 30-Stunden-Stellen einzurichten. Doch diese Idee ist wirklichkeitsfremd: Weder die SPD und schon gar nicht die Union werden die 400-Euro-Jobs streichen. Wer diese Arbeitsmöglichkeit verbietet, dem ist die Wut von sechs Millionen minijobbenden WählerInnen sicher.

Es ist also zu vermuten, dass neue 30-Stunden-Stellen für Erwerbslose einfach nicht entstünden. Das Bofinger-Papier hat dennoch einen großen Verdienst: Das Thema Niedriglöhne wird konzeptionell aufgegriffen. 1,9 Millionen Vollzeitbeschäftigte ackern zu weniger als acht Euro brutto die Stunde. Millionen schlecht bezahlte Teilzeitbeschäftigte kommen hinzu. In Deutschland wächst ein Dienstleistungsproletariat. Dort finden sich auch viele Leute mit Berufsausbildung.

Wie man diese Arbeitenden unterstützen kann, ist eine brisante Frage. Über eine öffentliche Subventionierung von Niedrigeinkommen nachzudenken, ist daher richtig, doch es reicht nicht. Wer nämlich den Erwerbslosen vorwirft, sich einzurichten mit Hartz IV, der muss den Unternehmern vorhalten, sich ihrerseits längst eingerichtet zu haben mit der Bezahlung von Niedriglöhnen.

„Existenzssichernde Beschäftigung“ ist angeblich schon ein 30-Stunden-Job für 750 Euro im Monat

Wer heute Leute zu Stundenlöhnen von fünf, sechs Euro beschäftigt, der weiß, dass sie anderweitig Möglichkeiten haben, das Entgelt aufzustocken – sei es durch die Inanspruchnahme von ALG II oder durch einen gutverdienenden Ehepartner.

Geringe Entgelte belasten indirekt unser Sozialsystem. Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn wird es daher nicht gehen. Eine Lohnuntergrenze könnte auch den Unterbietungswettlauf der Unternehmen in der Dienstleistung befrieden, die sich gegenseitig mit Dumpingpreisen den Markt kaputtmachen.

Das Problem mit dem Mindestlohn kennen auch Bofinger und seine Koautoren. Sie schlagen einen Mindestlohn von 4,50 brutto vor – doch diese Grenze kann man nicht ernst nehmen. In Großbritannien, nicht gerade als Hochlohnland verschrien, gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet 8 Euro brutto die Stunde. Die Gewerkschaften fordern hierzulande 7,50 Euro die Stunde.

Irgendwo sollte man jedenfalls mal anfangen mit einer Lohnuntergrenze. Was dann wirklich passiert in unserem Sozialsystem und auf dem Jobmarkt – das wäre auf jeden Fall ein neuer, hoffnungsvoller Großversuch. BARBARA DRIBBUSCH