Vorhang auf für die Rakete

Das Historisch-Technische Informationszentrum in Peenemünde zeigt TechnokratenTräume der Superlative. Die einstige Waffenschmiede der Nazis ist heute Touristenattraktion

Das Technikgenie Wernher von Braun wurde in dieUSA importiert

von CHRISTEL BURGHOFF

Keine fünf Minuten braucht die Rakete bis nach London. Man wird nichts von ihr hören. „Die erste Nachricht, die man erhält, ist die Explosion. Danach – wenn’s einen dann noch gibt –, danach erst hört man das Geräusch ankommen.“ Ein Horror, den der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon in seinem 1.200-Seiten-Wälzer „Die Enden der Parabel“ thematisiert hat. Es war die erste Waffe, die schneller als der Schall flog. Die Rakete, gut bekannt als V2 („Vergeltungswaffe“) oder Aggregat 4, galt als Hitlers Wunderwaffe, die den „Endsieg“ herbeibomben sollte. In London, in Paris, in belgischen Städten.

Verrückterweise ist die Rakete der Stoff, aus dem Mythen gestrickt wurden – und werden. Vielleicht wegen der unerhörten technologischen Innovation, wie gern behauptet wird, vielleicht auch, weil in die Rakete bedingungslos Menschen und Ressourcen investiert wurden. Ein wahr gewordener Technikertraum von grenzenloser Machbarkeit und unbegrenzten Möglichkeiten. Ein Drittel der 60.000 KZ-Häftlinge, die die V2 in unterirdischen Stollen des südlichen Harzes in Serie produzieren mussten, überlebte dies nicht. Hinzu kommen Tausende von Angriffsopfern. Entwickelt und getestet wurde die Rakete in Peenemünde auf Usedom.

Peenemünde: Zumindest irritierend wirkt das Image, in dem sich die ehemalige Waffenschmiede heute sonnt und mit dem sie um Besucher wirbt, nämlich als Wiege der Raumfahrt. Man hat sich auf die Rakete besonnen und ein Historisch-Technisches Informationszentrum aufgemacht. An einem historischen Ort – mit längst verändertem Gesicht. Die Usedomer Bäderbahn, die einst im S-Bahn-Rhythmus massenhaft Arbeitskräfte in ein riesiges High-Tech-Zentrum transportierte, endet heute an einem gottverlassenen, öden Ort mit alten Kasernen und Mietshäusern, die, soweit nicht verlassen, vielen Aussiedlern als preiswerter Wohnraum dienen. Bis zur Wende war Peenemünde Standort der Nationalen Volksarmee, abgeriegelt wie zuvor.

Im Haupthafen hat ein privates U-Boot festgemacht, das sich als „größtes U-Boot Museum der Welt“ zur Besichtigung anbietet. Derzeit sammelt man dort Spenden für die Hinterbliebenen des untergegangenen russischen U-Boots „Kursk“. Nicht viel istnach den Sprengungen am historischen Schauplatz übrig geblieben: ein Kohlekraftwerk, ehedem das modernste und leistungsstärkste Europas, samt Schalterhaus, ein Bunker. Bis 1990 war die Anlage noch in Betrieb. Eine große Ruine, nicht weit entfernt, war einmal das Sauerstoffwerk, das flüssigen Sauerstoff für den Raketenantrieb produzierte. Kein Neubau weit und breit, nichts, was den Eindruck einer aufgelassenen Industrieanlage verwischt.

Bis auf die Militaria: Raketen, wie sie zu Lande und Wasser gebraucht wurden und werden, Minen, Militärhubschrauber, Flugzeuge, Angriffs- und Abwehrgeräte, sogar ein Raketenschiff, alles Hinterlassenschaften aus jahrzehnterlanger NVA-Anwesenheit.

Die Bunkerwarte wurde nun zum Museum, in dem das historische Material zum Raketenbau untergebracht ist. Peter Profe von der Museumsleitung erzählt, dass die Idee eines Infozentrums auf die Neugierde zahlloser Schaulustiger zurückgeht, die nach der Wende wissen wollten, was hinter den Zäunen denn nun los gewesen war, was die NVA getrieben hatte, was aus den Naziresten geworden ist. „Wir kannten ja das Gelände ganz genau“, erklärt Profe, „der Fundus war vorhanden, in 5 Monaten konnte das Zentrum aufgemacht werden.“ Das war im Mai 1991, kurz nachdem der letzte Eigentümer, die Bundeswehr, abgerückt war.

Wer aus dem Touristenhimmel der nahen, großartig sanierten Kaiserbäder mit der Pracht und Herrlichkeit verflossener Zeiten ins abgelegene Peenemünde reist, findet sich in der Nachkriegswirklichkeit wieder. Die ist hier militärisch. Hier wird Technikgeschichte selbstbewusst thematisiert.

Und auch die Rakete: Sie wurde rekonstruiert. 14 Meter hoch, schlank, formschön, original in Schwarzweiß – ein Modell, das beeindruckt. Man glaubt, sie längst zu kennen, immer schon gekannt zu haben. Sie verkörpert den Prototyp, der sich Jahrzehnte später in zahlreichen Varianten der amerikanischen Raumfahrtprogramme auf den Fernsehschirmen bewundern ließ. Aufgemalt wurde selbst ihr „Frau-im-Mond-Emblem“, ein Pin-up, nackt bis auf die schwarzen Nylons, ganz im Geschmack der damaligen Zeit. Ein Hinweis auf die erotischen Neigungen ihrer Erbauer.

Peter Profe liebt Technik. Nach der Wende setzte er die Idee des Informationszentrums mit in die Welt. „Von der Ausbildung und dem Beruf her war das technische Interesse immer zentral“, erzählt er, „auch bei der NVA“, der er angehörte. Ein Fan, der immer und in jedem Fall das – wie er sagt – „Gute“ an der Raumfahrt entdecken wird. Was natürlich ein sympathischer Wesenszug und gar nicht falsch ist, heutzutage, wo noch jede Fernsehschüssel und jedes Handy auf Satellitenempfang angewiesen ist. Allerdings sagt Profe auch: „Die Neugier der Menschen hat uns das Überleben gesichert.“ Als nämlich im Dezember 1990 auf einen Schlag fast 4.000 NVA-Angehörige entlassen wurden, fanden sich viele Bewohner Peenemündes und der Umgebung in der Arbeitslosigkeit wieder. Einzige Perspektive war die Abwanderung. Rückblickend erscheint der beherzte Zugriff auf das Nazirelikt als Flucht nach vorn.

Nichts scheint in diesem abgelegenen Zipfel Usedoms selbstverständlicher zu sein, als die Historie zu durchkämmen, in der Landschaft zu graben, die Reste aufzuräumen, herzuzeigen. Peenemünde ist authentisch bis zum Abwinken und bis in die hintersten Waldwinkel hinein. Auch ungeübten Augen fallen die merkwürdigen Verwerfungen in der Landschaft auf, manchmal ragen Betonreste heraus. Beton unter Wiesen; Schotter, Mauerreste, Gräben, Wälle im Wald; erstaunliche Biotope. Nach der Grenzöffnungseuphorie wurde schnell wieder eingezäunt, weil klar wurde, wie gefährlich die Landschaft mit den militärischen Altlasten ist.

Gras und Bäume überdecken nur knapp eine Vergangenheit, die, rein technokratisch gesehen, voller Superlative war: Die Heeresversuchsanstalt Peenemünde war ein Hochtechnologiezentrum neuen Stils: mit etlichen Neuentwicklungen des Industriebaus, mit luxuriösen Arbeits- und Lebensbedingungen für die Technikerelite (für Soldaten und Kriegsgefangene gab es dagegen Barackenlager), mit einem technischen Genie als wissenschaftlichem Leiter: Wernher von Braun. Mit einer großen Hafenanlage, mit Flugplatz und etlichen Raketenprüfständen, vor allem mit einer bis dahin einmaligen technischen Ausstattung (Fernsehen) und Kommunikation mit der Wissenschaftlerelite der deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen. Großbaumeister Albert Speer übernahm ab 1940 die direkte Bauleitung; es arbeiteten gut 10.000 Menschen in Peenemünde, 16.000 sollten es werden.

Es war ein Projekt der Wehrmacht mit Vorbildfunktion: Vergleichbare Großforschungszentren des Raketenbaus entstanden in den USA und der UdSSR erst ein bis anderthalb Jahrzehnte später. Und es war ein Projekt mit einer klaren Vorgabe, nämlich einer Fernwaffe, die 750 Kilogramm Sprengladung zielgenau über eine Mindestdistanz von 200 bis 300 Kilometern tragen sollte. Dann der Erfolg: Am 3. Oktober 1942 startete die Rakete auf Prüfstand 7. Mit Überschallgeschwindigkeit erreichte sie in 84,5 Kilometer Höhe die Erdatmosphäre und schlug 190 Kilometer entfernt in die Ostsee ein.

Die Rakete war nicht zu stoppen. Die alliierten Bombardierungen bewirkten nur die Aufnahme der Serienfertigung im Harz. Selbst nach Kriegsende machte die V2 weiter Karriere, nämlich als Kriegsbeute ersten Ranges – einschließlich der mit ihr befassten Techniker. Statt den SS-Mann Wernher von Braun wie andere Verantwortliche der Nazizeit den Nürnberger Richtern zu überantworten, wurde er samt Mitarbeitern und mit geschönten Vergangenheitszeugnissen in die USA importiert. Sein Name verband sich später publikumswirksam mit dem Apollo-Programm und der Mondlandung. In Peenemünde versuchten sich zunächst sowjetische Militärs an einer Fortführung des Raketenbaus.

Vielleicht war die Wiederentdeckung der Rakete in Peenemünde ein Griff neben die Political Correctness. Vielleicht hätte man weiter Gras und Bäume über die Relikte wachsen lassen sollen. Vielleicht muss man die Moderne in der Nazizeit aber auch zulassen, wenn man historisch korrekt sein will. Es besteht ein beachtliches Besucherinteresse. Über 2,1 Millionen Gäste zählt das Infozentrum seit seiner Eröffnung, jährlich kommen durchweg 10 Prozent mehr. Und kaum ein Besucher, den dies kalt lässt. Die vielen Kleinteile der Rakete im Museum der Bunkerwarte, das originale Arbeitszimmer eines Raketenbauers, Konstruktionszeichnungen, Lebensläufe, persönliche Erinnerungen und Hinterlassenschaften von Technikern, Peenemündern, Häftlingen, die vielen Urkunden, Erkennungsmarken und Ausweise, Modelle der Anlagen . . .

Die Bunkerwarte selbst ist original erhalten samt den Schaltapparaturen, sie ist gedrückt und eng, wie Bunker nun mal sind. Etliche prall gefüllte Ordner liegen in der Bunkerwarte aus, die von Gemütsbewegungen zeugen. Die gehen krass auseinander: Zeilen voller Dankbarkeit, weil man sich jetzt als Deutscher wieder stolz fühlen darf. Landfrauentrupps bedanken sich für schöne Stunden, ehemalige Peenemünder sind überwältigt von Erinnerungen. Andere sind verstört oder vom technischen Material begeistert, manche Besucher sind schockiert von der Waffenschau. Mitunter sehr differenziert werden Einseitigkeit bei der historischen Sicht und eine schlichte Technikfaszination kritisiert. Im Gästebuch wird zum Raktenthema alles gesagt.

Inzwischen gab es öffentliche Proteste, die sich jedoch nicht am Infozentrum, sondern am Wunsch der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie samt Deutscher Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt entzündeten, den 50. Jahrestag des ersten geglückten Raketenstarts auf dem historischen Boden zu feiern. Daraus wurde nichts. Es wurde auch nichts aus den Space-Park-Plänen, die man längst vor Ort hegte. Nach dem Vorbild amerikanischer Space Camps bzw. ihrer französischen und belgischen Pendants sollte ein Freizeitstätte samt Trainingszentrum zur „Förderung der Aufgeschlossenheit für die Hochtechnologie“ entstehen. Aus dem kleinen Zentrum sollte eine Großanlage werden.

Dieses Projekt wird jetzt in Bremen realisiert. Peenemünde legte daraufhin eine Besinnungspause ein. Ein wissenschaftlicher Beirat ist zusammengetreten, ein neues Museumskonzept sieht seiner Verwirklichung entgegen. Derzeit wird das alte, denkmalgeschützte Kraftwerk für das neue Konzept hergerichtet, das Museum wird „entflochten“. Eine „Denkmalslandschaft“ mit historischem Lehrpfad ist in Arbeit. Auch das Thema wurde überdacht. Es geht jetzt nicht mehr nur um die Rakete, sondern etwas nebulöser um die Ethik der Technik im Allgemeinen. Dabei entdeckten die Museumsleute als Sinnbild für die Ambivalenz der Technik die Parabel.

Thomas Pynchon war offenbar immer dabei. Sein Buchtitel „Die Enden der Parabel“ wird auch der Titel des neuen Peenemünder Konzepts sein.

Historisch-Technisches Informationszentrum im Kraftwerk, 17449 Peenemünde, Tel. (03 83 71) 50 50www.peenemuende.de (im Aufbau)