Fast in jeder Hinsicht ein Desaster

Dokumentation der Ergebnisse der weltweiten Pisa-Bildungsstudie: Deutsches Schulsystem schneidet schlecht ab – auch bei der Chancengleichheit. Soziale Herkunft wichtiger als in anderen Ländern. Die Integration von Migrantenkindern gelingt nicht

Der vergleichende Test der Schülerleistungen von 15-Jährigen in 32 Staaten hat für Deutschland in beinahe jeder Hinsicht desaströse Ergebnisse hervorgebracht. Die taz fasst die wesentlichen Aussagen der Studie zusammen:

– Das deutsche Bildungssystem schneidet in der Gesamtbewertung nur unter „ferner liefen“ ab. In allen drei Bewertungskategorien, Leseverständnis (Platz 22), mathematische (Platz 21) und naturwissenschaftliche Fähigkeiten (Platz 20) liegen die deutschen Schüler unter dem Schnitt der getesteten Länder.

– Deutsche Schüler sind in der Spitzengruppe nur mittelmäßig. Neun Prozent lösten im Mai diesen Jahres die Aufgaben auf der höchsten Niveaustufe des Lesens (der OECD-Schnitt liegt bei zehn Prozent). In den beiden untersten Leistungskategorien zählen die Deutschen sogar zu den schlechtesten: 23 Prozent der Schüler hier zu Lande sind funktionale Analphabeten oder nur eine Leistungstufe darüber.

– Das deutsche Schulsystem verstärkt durch seine scharfe Gliederung den sozialen Bildungshintergrund. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind einer Mutter mit niedrigem Bildungsabschluss auf diesem Niveau verharrt, ist zum Beispiel in Deutschland zweieinhalb Mal größer als etwa in Finnland.

– Dem deutschen Schulsystem gelingt es im Vergleich zu dem anderer Länder mit am schlechtesten, die Kinder von Migranten zu integrieren. Fast nirgendwo sonst sind die Testergebnisse der Kinder „Einheimischer“ so deutlich besser als die von hier geborenen Kindern Zugewanderter.

– Die Studie hat weltweit beim Lesen ein extremes Bildungs- und Interessengefälle zwischen Jungen und Mädchen festgestellt. In der Kategorie Leseverständnis nimmt auch hier die Bundesrepublik einen traurigen Spitzenplatz ein: 27 Prozent der Jungen sind als funktionale Analphabeten oder eine Leistungsstufe darüber einzuordnen. (Mädchen: 18 Prozent)

Die Spitzengruppe

Im OECD-Raum erreichen 10 Prozent der mit Pisa erfassten SchülerInnen hervorragende Leseleistungen. Sie sind in der Lage, anspruchsvolle Aufgaben zu lösen, das heißt mit komplexen Informationen in Texten umzugehen, ein genaues Verständnis davon nachzuweisen und den Text kritisch zu bewerten; sie vermögen Konzepte zu begreifen, die unter Umständen im Widerspruch zu den eigenen Erwartungen stehen.

Der Anteil der deutschen Kids in dieser Gruppe liegt bei neun Prozent. Zum Vergleich: Finnland 19 Prozent; Großbritannien 16 Prozent.

Die Schlusslichter

Unter den Schlusslichtern sind deutsche Schüler Spitze. Nur die Schüler Mexikos und Luxemburgs schneiden schlechter ab. Im OECD-Schnitt erreichen sechs Prozent der Schüler nicht einmal die unterste Kompetenzstufe – in Deutschland sind es 10 Prozent. Die meisten dieser SchülerInnen dürften wohl im technischen Sinne lesen können, aber man darf davon ausgehen, dass sie große Schwierigkeiten haben, Lesekompetenzen als ein effizientes Mittel zur Erweiterung ihrer Kenntnisse einzusetzen. Für sie besteht daher die Gefahr, dass sie sowohl beim Übergang in die Berufsbildung Probleme haben als auch in ihrem Leben Möglichkeiten zur Weiterbildung nicht effektiv nutzen können. Hinzu kommt ein Schüleranteil von 13 Prozent, der lediglich Kompetenzstufe eins erreicht.

Der hohe Anteil von SchülerInnen in Deutschland mit einem sehr geringen Leistungsvermögen ist auf Grund der Bedeutung von Lesekompetenz als Basisqualifikation auch für die anderen Leistungsbereiche besonders problematisch.

Leistungsstreuung

Leistungsunterschiede zwischen den Schülern werden durch viele Faktoren bedingt. Deutschland zeichnet sich durch eine hohe Leistungsstreuung aus. Ein Großteil dieser Streuung erklärt sich durch Leistungsunterschiede zwischen den Schulen, wovon der weitaus meiste Teil zwischen den verschiedenen Schulformen liegt. Innerhalb der einzelnen Schulen sind die Leistungen dagegen relativ homogen. Das ist Ausdruck des gegliederten Schulsystems, das im internationalen Vergleich SchülerInnen sehr früh in verschiedene Schulformen separiert.

Im Bereich der Lesekompetenz sind die geringsten Leistungsunterschiede zwischen den Schulen in Finnland, Island und Schweden zu beobachten. In diesen drei Ländern besteht im Großen und Ganzen kein Zusammenhang zwischen den Leistungen der Schüler und den Schulen, die sie besuchen. Die Schüler treffen dort mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein homogenes Lernumfeld, was das Spektrum der Fähigkeiten ihrer Mitschüler betrifft.

Pisa zeigt, dass eine breite Beteiligung an Bildungsgängen, die zu höheren Abschlüssen führen, und ein hohes Leistungsniveau realisierbar sind. Das heißt: Hohes Niveau bedarf nicht notwendig einer frühen Auslese.

Geschlechterunterschied

Die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind in allen Ländern signifikant. Weltweit erreichen Mädchen in der Lesekompetenz ein höheres Niveau als Jungen. In Deutschland ist dieser Vorsprung mit 35 Punkten noch größer als im OECD-Durchschnitt (29 Punkte). Insbesondere in der höchsten Kompetenzstufe „Reflektieren und Bewerten“ schneiden Mädchen wesentlich besser ab als Jungen. Kaum Unterschiede gibt es in den naturwissenschaftlichen Fächern. Nur bei der mathematischen Grundbildung erzielen Jungen etwas bessere Ergebnisse als Mädchen.

Die Autoren der Pisa-Studie führen die geschlechtsspezifischen Unterschiede auch auf die Selektionsmechanismen in stark gegliederten Bildungssystemen zurück. Mädchen kommen damit offenbar besser zurecht: Mit Ausnahme Koreas sind Mädchen in allen Ländern in den anspruchsvolleren Sekundarstufe-II-Programmen, die zur Hochschulreife führen, überrepräsentiert.

Sozialer Hintergrund

Soziale Hintergrundfaktoren wirken sich mit am stärksten auf die Leistungen der SchülerInnen aus. Das ist eine große Herausforderung für die Bildungspolitik, die allen SchülerInnen unabhängig von ihrem familiären Hintergrund Lernmöglichkeiten bieten muss. Pisa zeigt, dass Schule etwas bewirken kann: In Kanada, Finnland, Island, Japan, Korea und Schweden liegt das Leistungsniveau der SchülerInnen über dem Durchschnitt, während die Effekte der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status auf die Schülerleistungen unterdurchschnittlich stark ausgeprägt sind.

In Deutschland allerdings schlägt der soziale Faktor besonders stark durch. Es gelingt dem deutschen Schulsystem vergleichsweise schlechter, sozial und familiär bedingte ungünstige Schülervoraussetzungen auszugleichen. Ungünstige Bildungsvoraussetzungen auf Grund der sozialen Herkunft schlagen in Deutschland am stärksten durch. Die Tatsache, dass in stärker integrierenden Schulsystemen dieser Zusammenhang nicht so stark ausgeprägt ist, könnte damit zusammenhängen, dass Schüler mit einem niedrigen sozialen Status und höherem Leistungspotenzial ihre Möglichkeiten nach der Primarstufe in den weniger anspruchsvollen Bildungsgängen und Schulformen nicht voll ausschöpfen. Auch der Migrationshintergrund erschwert es erheblich, gute Leistungen zu erbringen. Dieser Zusammenhang ist in Deutschland vergleichsweise stark ausgeprägt.

Diese Herausforderung wird angesichts der kombinierten Wirkung von sozioökonomischem Hintergrund und schulischer Separierung in homogene soziale Schichten noch gesteigert. Österreich und Deutschland etwa sind Länder, in denen vom durchschnittlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status der Schulen ein besonders starker Einfluss auf die Schülerleistungen ausgeht; er ist viel stärker als der Einfluss der einzelnen Familien. Dies lässt sich durch das ausgeprägte „social clustering“ in verschiedenen Schulformen erklären. Es führt im Endergebnis dazu, dass in Ländern, die Schulen stark nach sozioökonomischen Merkmalen segregieren, SchülerInnen aus sozial benachteiligten Milieus schlechtere Leistungen erzielen – und so die Chancenungleichheit verstärkt wird. In Deutschland ist diese Kumulation von sozialen und pädagogischen Effekten am stärksten ausgeprägt.