Michail Chodorkowski über Russland: „Korruption ist Putins Rückgrat“

Um die Verflechtungen in Russland zu beseitigen, müsste ein Machtwechsel ermöglicht werden, sagt Michail Chodorkowski. Dazu aber sei der Präsident nicht bereit.

Russiche Soldaten. Bild: ap

taz: Herr Chodorkowski, Sie haben mal geschrieben, es habe Ihnen im Gefängnis geholfen, dass Sie kein besonders emotionaler Mensch sind. Wieso?

Michail Chodorkowski: Emotionale Stabilität ist in der Haft die wichtigste Voraussetzung, um Gesundheit und Leben zu bewahren. Meinem Freund und Partner Platon Lebedew, der um einiges gefühlsbetonter ist als ich, setzt das Gefängnis viel mehr zu.

Erwischen Sie sich gelegentlich bei dem Gedanken, dass Präsident Wladimir Putin an Ihrer statt sitzen müsste?

Nein, ich glaube nicht, dass mein Opponent ins Gefängnis sollte. Das wäre doch unsportlich.

Putins Stern sinkt in Russland, und Sie werden immer wieder als Präsident ins Gespräch gebracht. Fürchten Sie nicht, dass sich jemand wegen Ihrer Unnachgiebigkeit an Ihnen rächen könnte?

Ich will keine politische Karriere machen, das habe ich schon oft gesagt. Dadurch verringert sich aber nicht das Risiko. Ich bin schon einmal mit einem blauen Auge davongekommen, als sich im Schlaf jemand mit einem Messer über mich hermachte. Er wollte mich ins Auge stechen, rutschte aber ab und verletzte mich im Gesicht. Es ist unmöglich, sich zehn Jahre lang ununterbrochen zu fürchten. Du wirst zum Fatalisten. Ich bin schon lange so weit.

Dem Prozess und der Haft hätten Sie sich durch Emigration entziehen können. Waren Sie nicht auf die Pervertierung des Rechtssystems vorbereitet?

Mit einigen Jahren Haft hatte ich gerechnet. Ich hätte aber nie für möglich gehalten, dass in einem öffentlichen Prozesses bewusst absurde Anklagen erhoben würden. Überhaupt nicht vorstellen konnte ich mir, dass aus meinem Umkreis massenhaft Leute als Geiseln festgenommen würden. Das war einer der Gründe, warum ich Russland nicht verlassen konnte. Ich wurde in dem Geist erzogen, seine eigenen Leute nicht im Stich zu lassen.

Der Geschäftsmann: Der 49-Jährige begann seine Geschäftskarriere - wie die meisten russischen Oligarchen - schon im kommunistischen Jugendverband Komsomol, unter dessen Dach der Jungfunktionär eine Import-Export-Firma gründete. 1995 erwarb er eine Aktienmehrheit am damals zweitgrößten russischen Ölkonzern Yukos.

Der erste Prozess: 2003 wird der inzwischen reichste Russe verhaftet und 2005 wegen Steuerhinterziehung und Betrug zusammen mit seinem Partner Platon Lebedew zu acht Jahren Haft verurteilt, die er in sibirischen Lagern absitzt. Der Kreml hatte es einerseits auf den Yukos-Konzern abgesehen, überdies war aber auch der politisch ambitionierte Tycoon, der die Opposition förderte, dem Kremlchef ein Dorn im Auge.

Der zweite Prozess: 2010 wurden die Beklagten zu weiteren 6 Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen in diesem absurden Verfahren vor, das Öl, für das sie zuvor angeblich keine Steuern bezahlt hatten, wofür sie bereits verurteilt worden waren, komplett veruntreut zu haben.

Die Haft: Im Dezember 2012 verkürzte ein Moskauer Gericht nach einer Gesetzesänderung das Strafmaß für Chodorkowski um zwei Jahre. Sein Entlassungstermin nach jetzigem Stand wäre der 25. Oktober 2014.

Das Interview: Die Fragen stellte die taz schriftlich. Chodorkowski bekam sie mithilfe seiner Rechtsanwälte. (khd)

Wären unter Putins Vorgänger Boris Jelzin solche Rechtsbeugungen möglich gewesen?

Auch unter Jelzin fällten Gerichte rechtswidrige Urteile. Meist waren das jedoch persönliche Entscheidungen einzelner Richter. Damals stand weder ein System dahinter, noch war es Vorgabe der Politik.

Heißt das, Korruption hat sich erst unter Putin zum systembildenden Element entwickelt?

Ein bedeutender Teil der Mannschaft Wladimir Putins will sich persönlich bereichern und greift dazu auf Gewalt als pseudolegitimes Mittel zurück. Natürlich hat das viele verschiedene Facetten. Viel gefährlicher scheint mir jedoch, dass sich dieses Verhalten – mit wenigen Ausnahmen – auch in der Bürokratie und den Ordnungsstrukturen breitgemacht hat. Jeder Beamte, jeder Polizist meint, er dürfe sich auf Kosten der Bürger bereichern. Korruption gibt es überall, aber nur wenige Regime erhoben dieses Prinzip zum tragenden Element. Putin traf die Wahl bewusst, denke ich, weil er darüber die Elite besser kontrollieren kann. Ich hielt das von Anfang an für einen Fehler, was ich ihm im Februar 2003 auch gesagt habe.

In Russland protestieren regelmäßig Tausende, es sind aber weniger geworden. Hat der Kreml die Krise überstanden?

Der sichtbare Protest hat nachgelassen, gleichzeitig wächst aber die Unzufriedenheit mit dem System. Wladimir Putins politischer Zyklus neigt sich dem Ende zu. In Russland erstreckt sich solch ein Zyklus gewöhnlich über 15 Jahre. Verlängern lässt er sich nur durch einen Krieg oder einen radikalen Eingriff ins System. Andere Beispiele kennt unsere Geschichte nicht. Wird der jetzige Kurs fortgesetzt, führt das unweigerlich zu Stagnation und Zerfall wie unter Generalsekretär Leonid Breschnew. Historische Erfahrung sagt uns: Wie lange eine Stagnationsperiode auch dauern mag, sie endet zwangsläufig in einer Zeit der Wirren.

Vertraut Putin seinem Volk?

Das ist das grundlegende Problem unseres Präsidenten, aber auch seiner Umgebung: sie misstrauen dem Volk, das für sie nur aus dem inaktiven Teil der Gesellschaft besteht. Das aktive Segment hat keinen Zugang zur herrschenden Korporation. Putins Welt besteht aus einer unselbstständigen Mehrheit, einer feindlichen oder von Feinden gekauften Minderheit und seiner unmittelbaren Umgebung. Er kann sich nicht vorstellen, dass es so etwas wie eine ehrliche, selbstständige und verantwortungsvolle Opposition gibt. Putins Entourage liefert ihm zudem immer wieder begeistert „Beweise“ dafür, dass die Opponenten vom State Department gekauft wurden.

Europäische Politiker wollen nicht wahrhaben, dass Putin keine Modernisierung nach westlichem Vorbild anstrebt.

Putin hat sein Modell dem der DDR abgeschaut, mit der er gut vertraut war. Zu dem starren politischen System gehören Marionettenparteien und ein Staat, der die Volkswirtschaft monopolisiert.

Putin bekämpft zurzeit die Korruption. Ist es ihm ernst?

Die Korruption hat eine zerstörerische Dimension erreicht. Das spürt auch Putin zweifelsohne. Daher der Versuch, Auswüchse einzudämmen. Aber Korruption ist das Rückgrat des Regimes. Um ihrer Herr zu werden, müsste das politische Personal komplett ausgewechselt und politische Konkurrenz zugelassen werden. Kurzum: Ein Machtwechsel müsste möglich sein. Ein Opfer, zu dem Putin nicht bereit ist und seine Leute schon gar nicht.

Kann sich Putin nicht ändern?

Putin hält sich für den einzigen Motor der Veränderung. Nur er trifft richtige Entscheidungen. Verheerender wirkt sich allerdings aus, dass so getan wird, als gebe es keine Alternative zu ihm. Das ist eine bewusste Lüge, viele glauben es – auch er selbst. Die beste Alternative sind normale, demokratische Institute, deren Reputation der Kreml bewusst demontiert. Ob sich Putin noch wandeln kann? Charakter, Alter, Umgebung – ich habe da meine Zweifel. Doch Wunder gibt es immer wieder.

Wer kann Putin gefährlich werden?

Ich bin mir sicher: Putin wird zu guter Letzt von den eigenen Wegbegleitern ausgeschaltet.

Wie sehen Sie Russlands Entwicklung in den nächsten Jahren?

Russland bewegt sich wieder auf einen Scheideweg zu. Stagnation, Polizeiregime, Wahlfälschungen und eine neue Emigrationswelle gut ausgebildeter junger Leute halte ich für wahrscheinlicher als jede andere Perspektive. Aber es besteht auch noch eine Möglichkeit, dass die Proteste wieder aufflackern und sich innerhalb der Elite Brüche auftun, die es erlauben, zum Aufbau demokratischer Institutionen zurückzukehren.

Hat Russland dank des Internets endlich die Chance, die Atomisierung zu überwinden und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln?

In der Tat bieten die Informationstechnologien erstmals die Möglichkeit, die verfluchten Entfernungen in meinem Land, die Einsamkeit der denkenden Menschen und die Isolation der Vertreter von politischen und intellektuellen Minderheiten in der Provinz zu überwinden. Es sozusagen zu vereinigen trotz schlechter Straßen und regionaler Unterschiede. Aber es wäre ein Fehler, von den Technologien die Lösung aller Probleme zu erwarten. Straßen und demokratische Institutionen müssen wir trotz allem schon selbst bauen.

Mit welchen ökonomischen Unwägbarkeiten muss Russland rechnen?

Die Unsicherheit in den Eigentumsrechten, unklare Spielregeln, systemische Korruption, das Fehlen unabhängiger Gerichte und die Ausweitung der Staatsmonopole halten langfristige Investitionen von Russland fern. Es geht dabei nicht ums Geld, das hat der Staat sogar. Auf die intellektuellen Ressourcen wirkt sich das aus. Menschenschicksale sind davon betroffen. Russland verliert weiter an Konkurrenzfähigkeit und gerät zunehmend in den Sog eines kulturellen Niedergangs.

Ein Staat in Bedrängnis wird unberechenbar. Schließen Sie ein Gewaltszenario aus?

Die Sache ist noch schlimmer. Unser Staat besteht aus untereinander zerstrittenen Gruppen. Sie nutzen Provokationen gegen Dritte im Kampf gegeneinander. Das ist für sie schon zur Norm geworden. Es gibt natürlich auch Kräfte, die glauben, von einem Gewaltszenario profitieren zu können. Putin versucht sie auszutarieren, aber seine Möglichkeiten schwinden.

Sind Sie in der Einsiedelei des Gefängnisses dem Glauben nähergekommen?

Das Leben eines Einsiedlers zwingt ihn, sich auf die inneren Welt zu konzentrieren. Ich bin da keine Ausnahme. Ohnehin spürst du im Alter viel stärker die Grenzen zwischen dem Nichterkannten und dem Unerkennbaren und denkst häufiger über den Sinn des Lebens nach. Für mich ist das ein Weg zum Glauben.

Was macht Ihnen zurzeit am meisten Sorgen?

Die Familie: meine Kinder, die ohne Vater aufwachsen, meine kranken Eltern und meine seit zehn Jahren wartende Frau.

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