Ukraine-Krise: Zwischen Angst und Hoffnung

Der Maidan-Platz in Kiew ist weit weg, den Konflikt in ihrer Heimat erleben sie nur aus der Ferne. Doch viele in Hamburg lebende Ukrainer wollen nicht untätig bleiben.

Schätzen den Austausch, weil sie dann mit ihren Ängsten nicht so allein sind: Wassil, Oksana und Maxim. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Zuerst habe er seinen Augen nicht trauen wollen, sagt Maxim. Maskierte, aufgebrachte Männer stürmen auf einen Bus voller Polizeibeamter zu und versuchen, ihn zu kippen. „Das wäre fast eskaliert, doch dann gingen andere Demonstranten dazwischen und verhinderten Schlimmeres“, sagt er. Szenen wie diese beobachtete der 42-jährige Fotograf immer wieder – damals im November, während der ersten pro-europäischen Proteste auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

Seit 20 Jahren lebt Maxim in Deutschland, bei der Orangenen Revolution im Jahr 2004 war er nicht dabei und habe dies später bereut, sagt er. Als sich dann die Nachricht von den ersten Großdemonstrationen in seiner Heimatstadt verbreitete, habe er keinen Moment gezögert: „Diesmal wollte ich dabei sein. Ich bin hier zwar körperlich in Sicherheit – doch einfach herumsitzen wäre unerträglich gewesen, mit dem Kopf bin ich immer in der Ukraine.“ Maxim ist ein ruhiger Mann, der immer einen Moment nachdenkt, bevor er spricht. Zehn Tage war er bei den Protesten dabei. Die maskierten Männer hält er für bewusst eingesetzte Provokateure. „Dieses Maß an Gewalt war unheimlich, wurde aber unter den Aktivisten sehr kritisch diskutiert“, sagt er.

Neben Maxim sitzen Oksana, Lena und Wassil. Auch sie sind in der Ukraine geboren und leben nun seit Jahren in Hamburg. Man kennt sich, in den letzten Monaten sind sie einander oft begegnet, bei Protestveranstaltungen und Mahnwachen haben sie über die politische Lage diskutiert, gestritten und Berichte aus der Heimat ausgetauscht.

Oksana gestikuliert und schüttelt immer wieder wütend den Kopf, wenn sie über die Lage in der Ukraine spricht. Die zierliche junge Frau ist Mitglied beim Bund ukrainischer Studenten, gemeinsam mit anderen Aktivisten hat sie die erste Solidariätsdemonstration in Hamburg organisiert. „Die emotionale Belastung ist groß, da war es wichtig, sich auszutauschen, nicht allein zu sein mit der Angst“, sagt sie.

Im Februar gehen sie zum ersten Mal auf die Straße, hunderte Ukrainer ziehen in einem Trauermarsch mit einem improvisierten Sarg zum Rathaus, singen Grabeslieder. „So fühlen wir uns, denn traumatische Erlebnisse liegen hinter der Ukraine. Das ganze Land ist in Trauer und jeden Tag hören wir neue Berichte, die uns Angst machen.“ Als die Proteste in Kiew gewaltsamer wurden, stieg auch das Interesse deutscher Medien, erinnert sich Oksana. Doch für die Berichterstattung findet sie keine guten Worte: „Wir sollen immer etwas zu Klitschko oder Timoschenko sagen – dabei sind sie nicht die großen Heldenfiguren oder Hoffnungsträger.“ Zu oft werde der Fokus auf bestimmte Persönlichkeiten und geopolitische Großmächte gelegt, anstatt über die Menschen in der Ukraine selbst zu sprechen, sagt Oksana.

Im März organisiert sie gemeinsam mit anderen Aktivisten eine Fotoausstellung im Rathaus, denn einfache Gesichter aus dem Volk seien in vielen Medienberichten nicht zu sehen, sagt sie. Das Vertrauen in die Öffentlichkeit ist getrübt. Lena, die als Politologin arbeitet, informiert sich nur noch über ausgewählte ukrainische Medien, soziale Netzwerke oder durch Berichte vor Ort. „Westliche Medien und Politiker haben schließlich jahrelang ignoriert, dass der Ex-Präsident Janukowitsch Menschenrechte verletzt und schrittweise die Demokratie ausgehöhlt hat“, sagt sie, beugt sich dabei noch ein Stück weiter vor. „Das ist doch unglaublich!“

Und so gibt es zwei zentrale Gründe, warum die Ukrainer auch in ihrer Wahlheimat Hamburg auf die Straße gehen: Sie wollen aufklären über die Ursachen des Konflikts, die soziokulturellen Hintergründe im Land, den Blick dabei auf die ukrainische Bevölkerung lenken. Und sie wollen einander beistehen. Nach dem Trauermarsch im Februar, vor dem Eindruck der gewaltsam niedergeschlagenen Proteste auf dem Maidan, seien sie gemeinsam in der St.Petri-Kirche gewesen, berichtet Oksana – darunter viele Aktivisten, die eigentlich gar nicht gläubig sind. „Das war ein kathartischer Moment“, sagt die Studentin und klingt bei der Erinnerung selbst ein wenig erstaunt. „Viele ältere Menschen haben geweint, wir haben gebetet, waren einander sehr nahe“, sagt sie.

Auch außerhalb zentraler Sammelpunkte wie der Kirchengemeinde stehen die Ukrainer in Kontakt: Per E-Mail werden neue Protestaktionen bekanntgegeben, in einer Facebook-Gruppe namens „Euromaidan Hamburg“ werden Nachrichten zur Lage in der Heimat verbreitet. Der Kontakt zu Verwandten und Freunden aus der Ukraine ist heute besonders eng: In Telefonaten und E-Mails spürt sie die von Angst und Einschüchterung geprägte Stimmung im Land, erzählt Lena, die aus Luzk stammt, einer Stadt im Nordwesten der Ukraine. Vor ein paar Tagen sei ihr Cousin zum Militär einberufen worden, nun warte er auf seinen Einsatz. „Die Lage ist angespannt, alle befinden sich in Alarmstellung“, sagt Lena.

Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine stellt eine reale Bedrohung dar, da sind sich alle am Tisch sicher: „Auf der Krim und an den Grenzen wurden russische Spezialeinheiten stationiert, prorussische Rebellen wurden gezielt mit Waffen ausgestattet, jetzt dringen ukrainische Truppen in den Osten vor – natürlich können wir uns da einen Krieg vorstellen“, sagt Maxim und seufzt dabei leise auf. Kein Ukrainer, den er kenne, befürworte einen Krieg: „Die Russen sind militärisch überlegen und ein Krieg würde das Verhältnis zwischen den Nationen auf lange Sicht schwer beschädigen“, sagt er und die anderen nicken.

Wassil sitzt ganz am Rande des Tischs und hat bisher wenig gesprochen. Der junge Mann beobachtet die Runde mit einem Lächeln, sagt dann zögerlich: „Ich komme aus Dnipropetrowsk, das liegt im zentralen Osten der Ukraine. Dort ist die Stimmung etwas anders.“ Einen Krieg fürchten seine Freunde und Familie nicht, sagt Wassil: „Die Russen würden sich doch sowieso schnell durchsetzen.“ Wo er herkomme, sei Apathie und Politikverdrossenheit weit verbreitet. Der Auszubildende ist 22 Jahre alt und hat erst vor Kurzem zum ersten Mal Berührung mit einem West-Ukrainer gehabt – in der ukrainischen Gemeinschaft in Hamburg. Die soziokulturelle Spaltung des Landes in Ost und West sei für ihn deutlich spürbar. In der Schule lernte er aus sowjetischen Büchern, hatte wenig Kontakt zum westlichen Teil des Landes. Eine direkte Bahn- oder Busverbindung in den Hunderte Kilometer entfernten Westen gebe es nicht, eine weite Reise sei für ihn, der aus einer einfachen Arbeiterfamilie stamme, ohnehin zu teuer. „Was wir über den Westen wussten, beruhte nur auf Gerüchten – etwa, dass jeder, der dort offen Russisch spricht, verprügelt wird“, sagt Wassil und grinst wieder in sich hinein.

Dass er bei den West-Ukrainern in Hamburg nun nicht auf Ablehnung stößt, habe ihn überrascht, sagt er. Unter seinen Freunden in der Heimat seien heute einige prorussisch eingestellt, andere tendierten hingegen zur Ukraine. „Aber den meisten ist alles egal – die Macht diktiert und das Volk hat resigniert. Diese Einstellung bestimmt das Leben.“

Spätestens durch die gemeinsamen Solidaritätsaktionen und Proteste kommen sich Ukrainer aus allen Teilen ihres Landes nun näher. „Wir sind eine sehr heterogene Gruppe“, sagt Oksana. „Wir verurteilen Korruption und Repressionen, aber wenn wir weiter in die Tiefe gehen, sind wir doch unterschiedlicher politischer Meinung“, sagt sie. So habe es schon hitzige Diskussionen über die Verwendung des Schlachtrufs „Slawa Ukraini“ bei den Protesten gegeben. Der von Nationalstolz durchdrungene Ausruf kann übersetzt werden mit „Ruhm der Ukraine“ und ist unter den Aktivisten umstritten.

Wenn Maxim an die Zukunft seines Heimatlandes denkt, schwankt er zwischen Hoffnung und Resignation. „Mit den Paramilitärs im Osten wurden Kräfte freigesetzt, die eine ganz eigene Dynamik entwickelt haben – da fällt es mir schwer, optimistisch zu bleiben“, sagt er. Die Sorge um ihre Verwandten, die Wut über die politischen Machtkämpfe im Land ist den Aktivisten deutlich anzumerken.

Nicht selbst vor Ort sein zu können, ist für Lena eine Belastung: Seit zehn Jahren lebt sie in Deutschland. Wenn sie heute mit ihrer Mutter telefoniere, müsse sie sich rechtfertigen – weil die deutsche Politik aus Sicht vieler Ukrainer nicht deutlich Stellung gegen Russland beziehe. „Dann heißt es: Du und deine Merkel, ihr habt euch für billiges Gas verkauft und wollt deshalb keine Sanktionen verhängen.“ Lena zuckt müde mit den Schultern. „Also vermeide ich es, über Politik zu sprechen. Obwohl das Thema allgegenwärtig ist.“

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