Porträt SPD-Spitzenkandidat Schulz: Der Lautsprecher

Sein Herz trägt Martin Schulz sehr weit vorn auf der Zunge. Manchmal ist das riskant. Der Sozialdemokrat will EU-Kommissionspräsident werden.

Hat eine realistische Chance auf den Sieg: Martin Schulz, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten. Bild: reuters

ESSEN/WISMAR/KIEL taz | Martin Schulz verschränkt die Arme. Er steht auf einer Uferböschung in Essen-Altendorf, kneift die Augen zusammen und hat eine Idee. Es ist die erste von sehr vielen Ideen dieses Tages.

„Ihr müsst dat Altendorfer Meer nennen, dat Ding da unten.“ Der Präsident des Europaparlaments schaut triumphierend in die Runde, dann wieder auf den – gerade umgetauften – Niederfeldsee. Ein neu angelegtes Erholungsgebiet, Bauzäune, sauber gepflasterte Wege, cremeweiße Neubauten mit Loggien.

Ein Meer? Nordrhein-Westfalens Justizminister lächelt vorsichtig. Schulz läuft schon weiter, er hat wirklich wenig Zeit. Der Minister, die Landtagsabgeordnete und der Ratsherr, alle von der SPD, halten mühsam Schritt. Ein paar hundert Meter weiter, Ecke Amixstraße, stoppt der Tross vor einer Baustelle. Auf dem Schild prangt schon wieder der gelbe Sternenkreis auf blauem Grund, das Zeichen der Europäischen Union.

Schulz muss jetzt erst mal eine Story erzählen. Die erste von sehr vielen dieses Tages. In ihr kommen ein hoher EU-Diplomat vor, Namen tun nichts zur Sache, und Schulz selbst, klar. „Also, dann kam der tatsächlich in mein Büro und fragte, wer denn diese Firma Feder sei.“ Schulz läuft schon wieder los. „Die bauten ja überall in Spanien, ihr Name stehe auf allen Schildern.“

Die Schulz-Show

Feder, der Fonds européen de Développement régional, ist der wichtigste Geldtopf der EU für arme Regionen. Schulz’ Lachen hallt durch die Arbeitersiedlung.

4,2 Millionen Euro aus dem Topf durfte die Stadt Essen für den Niederfeldsee verbauen, 77.000 Euro an der Amixstraße. Früher war das hier ein Problemviertel mit vielen Arbeitslosen und Migranten, heute ziehen junge Akademikerfamilien her. Brüssel hilft: Deshalb ist Schulz hier.

Es ist Europawahlkampf in Essen-Altendorf, oder besser: Es ist die große Schulz-Show. Der Parlamentspräsident tourt als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten durch ganz Europa. Nach der Wahl am 25. Mai will Schulz Kommissionspräsident werden und damit der mächtigste Mann in der EU.

Er piesackte Berlusconi

Im Moment sieht es so aus, als würde es eng zwischen den beiden großen Parteienfamlien. Schulz hat eine realistische Chance. Er könnte Jean-Claude Juncker, den Kandidaten der Konservativen, wirklich schlagen.

Der Konkurrent: Jean-Claude Juncker ist der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP). Er ist der entscheidende Konkurrent von Martin Schulz im Rennen um das Amt des Kommissionspräsidenten; beide stehen für die großen Parteienfamilien.

Seine Biografie: Juncker war über 18 Jahre lang Premierminister Luxemburgs. Außerdem war er von 2005 bis 2013 Vorsitzender der Eurogruppe, in der sich die Finanzminister der Eurozone trafen. Medien tauften Juncker wegen seiner wichtigen Rolle vor allem in der Eurokrise „Mister Euro“.

Seine Ziele: Juncker sieht sich als „Brückenbauer“ mit viel Erfahrung in der Exekutive. Er lehnt eine auf Verschuldung ausgerichtete Politik ab, will Europas Unternehmen wettbewerbsfähig machen und dadurch mehr Wachstum schaffen.

Schulz möchte die Leute mit der EU versöhnen. Ihnen erklären, dass die EU mehr ist als willkommenes Geld. Mehr als eine ferne Bürokratie, die unnütze Richtlinien erlässt. Die EU ist für Schulz ein historisches Projekt. Und sie ist, ganz nebenbei, auch das Projekt seines eigenen Lebens. Schulz, der fließend Englisch, Französisch und Niederländisch spricht, ist längst eine große Nummer in Brüssel.

Er piesackte den Italiener Silvio Berlusconi 2003 im Parlament, bis der ihm empfahl, die Rolle des Kapo in einem italienischen Film zu übernehmen. Die Beschimpfung machte Schulz berühmt, er wurde zum Berlusconi-Bezwinger. Seit zwei Jahren ist Schulz Parlamentspräsident. Er erkämpfte sich den Zutritt zu den Runden der Regierungschefs, er organisierte das Veto des Parlaments gegen das Datenabkommen Swift, er bekam eine Privataudienz beim Papst. In seinem alten Nokia-Handy, von dem die silberne Farbe abblättert, ist die Nummer von Angela Merkel gespeichert, wie Schulz gerne und oft erzählt.

Bis Schulz kam, hatte ein Parlamentspräsident in den Plenardebatten gemessen zu schauen und an den richtigen Stellen mit der Glocke zu bimmeln. Schulz, der zu einer gewissen Großmäuligkeit neigt, füllte das Amt mit Machtanspruch. Er wandte das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung an. Schulz wurde wichtig, weil er behauptete, wichtig zu sein.

In dieser Logik ist das Kommissionspräsidium nur der nächste Schritt. Nur die Kommission darf in der EU Gesetze und Richtlinien vorschlagen, der Rat und das Parlament beraten und segnen ab. Würde Schulz es an die Spitze der Kommission schaffen, wäre er der erste Deutsche in dem Amt seit über 50 Jahren. Zuletzt war Walter Peter Hallstein Kommissionsvorsitzender der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Rolle Deutschlands hat sich seither stark geändert. Schulz sagt: „Meine Kandidatur ist die Chance, die eindimensionale Wahrnehmung Deutschlands in Europa zu ändern.“ Darin steckt eine gewisse Dialektik. Die SPD spielt in Deutschland die nationale Karte.

Wie ein Duracell-Häschen

Eine Gratwanderung, die nur klappt, weil die Partei Schulz’ Kandidatur als demokratische Sensation inszeniert. Erstmals könnten die Menschen direkt bestimmen, wer Kommissionspräsident werde, verspricht Europawahlkampfchef Matthias Machnig. Schulz soll helfen, eine gesamteuropäische Öffentlichkeit zu schaffen. Er soll den steten Abwärtstrend der europäischen Wahlbeteiligung stoppen. Und er soll die SPD von ihrem 20,8-Prozent-Trauma befreien. So viel holte die Partei bei der Europawahl 2009 in Deutschland.

Die Wahl: Bei der Europawahl am 25. Mai bestimmen die europäischen BürgerInnen, wie sich das EU-Parlament zusammensetzt. Darin werden 751 Europaabgeordnete aus 28 Staaten sitzen. Nach der Wahl 2009 stellten die Konservativen und Christdemokraten mit 265 Sitzen die größte Fraktion, dahinter lagen die Sozialdemokraten (184 Sitze).

Europäische Umfragen: Der Vorsprung der Konservativen ist geschrumpft. In //:EU-weiten Umfragen liegen die Konservativen im Moment nur drei Sitze vorn. Sie bekämen 212 Mandate im Parlament, die Sozialdemokraten 209.

Deutsche Umfragen: In Deutschland führt Angela Merkels Union deutlich. Sie bekäme 38 bis 39 Prozent der Stimmen. Die SPD pendelt je nach Befragung zwischen 25 und 28 Prozent.

Schulz absolviert seit Wochen ein Irrsinnsprogramm, reist von Warschau nach Essen nach Lissabon und erzählt eine Story nach der anderen. Sechs Städte am Tag, sechs Stunden Schlaf in der Nacht, 90 bis 100 Stunden Wahlkampf in der Woche. Seine Augen schauen gerötet unter schweren Augenlidern hervor, darunter dicke Tränensäcke.

Es wirkt, als habe die Sozialdemokratie ein Duracell-Häschen auf eine Landkarte Europas gesetzt, das trommelnd von Stadt zu Stadt wetzt. Warum reibt Schulz sich für solch ein Europa auf? Gibt es da noch ein anderes Motiv als die Lust an der Macht?

Ein Jugendtreff in Essen, bunte Vorhänge, selbst gebastelte Schmetterlinge an der Decke, ein Buffet mit Käsepickern. Schulz quetscht sich an einen Tisch neben sechs Teenager. Ihre Eltern stammen aus Nigeria, Indien, Irak oder aus der Türkei. Er fragt, wie der Jugendtreff so ankomme, wie der Mädchentag sei, was die Eltern dazu sagten, dass sie hierherkämen. Er hört ruhig und interessiert zu, aber dann muss er schnell noch eine Story erzählen.

Ein nahbarer Typ

Er habe als Würselener Bürgermeister mal einen Freund gefragt, wie er Frauen auf Türkisch höflich signalisieren könne, dass er sehr unter Zeitdruck stehe. Der Freund sprach ihm ein paar Sätze vor, Schulz spricht sie laut nach. Zwei Mädchen kichern los. „Wisst ihr, wat dat heißt?“, fragt Schulz die anderen. „Dat heißt: Jetzt mach voran, ich muss los. Dat war ne richtig fiese Möp, dieser Freund.“

Schulz ist ein nahbarer Typ. Ein Gemütsmensch, der Lieder der Bläck Fööss in rheinischem Dialekt mitsingen kann, spontan Gedichte vorträgt und wirklich gerne mit Menschen plaudert. Ihm fehlt die Aura des Bedeutenden, die viele Spitzenpolitiker umgibt. Er sagt: „Als Politiker müssen Sie den Mittelweg zwischen Distanz und Ranschmeiße finden.“

Für sein Ziel, Europa den Menschen wieder nahezubringen, ist all dies ein Vorteil. Schulz trägt Glatze und einen am Kinn grau gewordenen Vollbart, seine tropfenförmige Doppelstegbrille huldigt den 80er Jahren. Steckte er nicht in diesen gut sitzenden Anzügen, man könnte ihn sich leicht in der Sparkasse nebenan vorstellen.

Als Schulz im Januar 2012 in Straßburg zum Parlamentspräsidenten gewählt wurde, saßen 60 Leute aus seiner Heimat auf der Tribüne. Freunde aus seiner Heimatstadt Würselen, Nachbarn, Fußballkumpels vom S. V. Rhenania 05, seine Geschwister. Und Peter Kremer, 75 Jahre, sein alter Volksschullehrer, zu dem er bis heute Kontakt hält. „Martin ist sich treu geblieben“, sagt Kremer, CDU-Mitglied, Träger des Ehrentellers der Stadt Würselen. „Der ist einer von uns. Volksnah, aber ohne Volkstümelei.“

Storys aus Würselen erzählt Schulz besonders gerne. Hier verbringt er noch heute Zeit mit seiner Frau Inge, hier zogen sie beide Kinder groß. Hier ging Schulz in den 60ern auf die katholische Knabenschule in der Lehnstraße, dann auf das Heilig-Geist-Gymnasium. Er brach die Schule ab, begrub nach einer Knieverletzung Träume von einer Profifußballkarriere, versank im Alkohol und besiegte ihn mit Anfang 20. Er eröffnete eine Buchhandlung, trat in die SPD ein, wurde mit 31 Jahren Bürgermeister von Würselen. Mit 38 ging er nach Straßburg. Jetzt, mit 58, will er Kommissionspräsident werden.

Premium-Präsidentegebäck

Ein aufgeräumtes Büro im fünften Stock des Berliner Willy-Brandt-Hauses, hinter bodentiefen Fenstern die Dächer Kreuzbergs. Schulz zieht den Teller mit Keksen zu sich herüber, schirmt ihn mit dem Arm ab und steckt ein Waffelröllchen in den Mund. „Dat is Premiumgebäck für den Präsidenten.“

Was will er tun, wenn er es schafft? Drei Punkte, Schulz reckt Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Luft. Erstens: Europa müsse die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. „Unsere Kinder zahlen für eine Krise, die sie nicht verursacht haben.“

Zweitens: Es sei nicht hinnehmbar, dass Spekulanten Milliardengewinne machten, aber keine Steuern zahlten. „Und wenn sie Milliardenverluste machen, zahlt der Steuerzahler.“

Drittens: Ihm gehe es um Mitbestimmung. „Viele Leute haben von der EU die Nase voll. Gestrichen. Ich verstehe das auch. Sie haben das Gefühl, da sitze eine anonyme Macht in Brüssel, die über ihr Leben bestimmt.“

Diese Sätze könnte Schulz in fernsehtauglichen 12 Sekunden aufsagen, würde man ihn nachts aus dem Tiefschlaf wecken. Er sagt sie in der Dortmunder Fußgängerzone, in der Alten Reithalle in Wismar, in der Sparkassen-Arena in Kiel. Wahlkampfsprech, das er aber en détail mit Richtlinienentwürfen unterlegen kann, falls gewünscht. Die SPD erklärt Schulz’ Kurs zur Alternative zu Angela Merkels Sparpolitik. Doch gerade im Konkreten werden die Unterschiede kleiner.

Ein Beispiel liefert TTIP, das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa. Eigentlich ist Schulz ein überzeugter Anhänger. Doch viele SPD-Wähler vermuten hinter dem Abkommen einen konspirativen Akt, bei dem sich Großkonzerne gegen die Verbraucher verschwören. Also würzt Schulz seine Reden neuerdings mit einer Prise Skepsis.

„Doppelzüngige Auftritte“

In Bremen warten rund 300 Menschen unter einem runden Zeltdach, das die SPD vor dem gotischen Rathaus auf dem Marktplatz aufgespannt hat. Schulz bekommt viel Applaus, aber als er über das Abkommen redet, hält fast die Hälfte der Menschen stumm schwarze Schilder in die Luft: „Stoppen Sie TTIP!“ Wer glaube, mit dem Abkommen europäische Standards aushöhlen zu können, finde in ihm einen Gegner, ruft Schulz.

Er ist klug genug, nicht gegen Mehrheiten Wahlkampf zu machen. Und er weiß: Wer Kommissionspräsident werden will, sollte die konservativen Regierungschefs und Abgeordneten nicht allzu sehr verprellen.

In den letzten zwei Jahren verhandelte das Parlament mit dem Rat der EU seinen Finanzrahmen bis 2020. Schulz forderte zum Auftakt der Verhandlungen lautstark mehr Geld. Am Ende nickte er ein Budget ab, das sogar kleiner war als das vorherige. „Mit solch doppelzüngigen Auftritten schwächt Martin Schulz das Parlament, statt es zu stärken“, sagt Sven Giegold, Europaspitzenkandidat der Grünen.

Schulz legt seine Rolle als Präsident im Wahlkampf großzügig aus. Er widmete zum Beispiel im März seinen Twitter-Account um. Plötzlich schrieb nicht mehr der Parlamentspräsident den – damals – 80.000 Followern, sondern der Spitzenkandidat. Alle Vorwürfe, er missbrauche sein Amt für Wahlkampfzwecke, ließ Schulz mit bemerkenswerter Lässigkeit von sich abtropfen.

Warum macht er das?

Er denkt gar nicht daran, das Amt wegen der Kandidatur ruhen zu lassen. Wäre das in Deutschland denkbar, würde sich Bundestagspräsident Norbert Lammert als Bundeskanzler bewerben?

Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Die Schulz-Story kommt nicht ohne innere Widersprüche aus. In dem Büro im Willy-Brandt-Haus ist es jetzt Zeit für eine große Frage. Herr Schulz, wenn man die Macht, die Lust am Gestalten, an der eigenen Bedeutung mal beiseitelässt – warum machen Sie das überhaupt?

Schulz atmet tief ein, tja, wo anfangen. Dann erzählt er von seiner Familie. Von seinem Vater Albert, Polizeibeamter, elfter Sohn eines saarländischen Bergmannes, Sozi durch und durch. Von der Mutter Clara, streng katholisch, die 1946 die CDU in der Heimatstadt mitgründete. Beide verband der Hass auf die Nazis. Sie erzogen ihre fünf Kinder bei Aachen, ein paar Kilometer von der niederländischen und der belgischen Grenze entfernt. Martin war der Jüngste, er kam zehn Jahre nach Kriegsende zur Welt.

Wie in vielen deutschen Familien wirkte der Weltkrieg jahrzehntelang nach. Ein Bruder der Mutter, Spezialist für die Räumung von Landminen, meldete sich zu Aufräumarbeiten in Belgien, trat auf eine Mine und starb. Im Frieden, kurz nachdem er die Front in Russland überlebt hatte. Die Mutter konnte über diesen Bruder nie sprechen, erzählt Schulz in dem Büro. „Es war ein Familientrauma.“

Als er den Führerschein hatte, fuhr er sie Jahr für Jahr am 14. November zum Soldatenfriedhof in Lommel, Flandern. „Wir beide im Auto, schweigend, sie weinend, das waren bizarre Touren.“ Das sei so ein Grund, warum er für Europa kämpfe, sagt Schulz. Auch wenn das vielleicht etwas pathetisch klinge. Schulz wischt sich über die Augen. Seltsam sei das: Je älter man werde, desto näher habe man am Wasser gebaut.

Es sind Momente wie diese, in denen einem Martin Schulz sehr sympathisch sein kann. Da rast ein Spitzenpolitiker ohne die üblichen Sicherungsnetze durch Europa. Und, nein, pathetisch klingt sein Grund, für Europa zu sein, eigentlich nicht.

Bisweilen etwas unpräzise

In keiner seiner Reden fehlt der Hinweis darauf, wie wertvoll der Staatenbund sei, allein weil er im 20. Jahrhundert Frieden auf dem Kontinent gestiftet habe. „Wir dachten, die Friedensdividende Europas sei abgehakt“, sagt Schulz mit Blick auf die Ukrainekrise. Er muss gar nicht ergänzen: Aber sie ist es nicht.

Auch der Kampf gegen rechts zieht sich durch seine Biografie. Die Intimfeindschaft mit Berlusconi ist nur die prominenteste Fußnote. Schulz hat den FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache einen Nazi genannt, er liefert sich scharfe Rededuelle mit dem britischen Rechtspopulisten Nigel Farage. Den Symbolwert, der darin steckt, dass da im Europäischen Parlament immer ein Deutscher aufsteht, um die Rechten über Geschichte zu belehren, kann man kaum überschätzen.

Allerdings ist es in der Politik nicht immer von Vorteil, sein Herz ganz vorn auf der Zunge zu tragen. Schulz’ Art, Politik zu betreiben, volksnah ist im besten Sinne, zuspitzend, oft ehrlich. Aber sie hat auch etwas Unpräzises. Ab und zu rutschen ihm die Dinge im Eifer des Gefechts weg, und er überschreitet die feinen Grenzlinien der Diplomatie.

Im Februar besucht er Israel, er darf auf Deutsch in der Knesset reden. Schulz’ Rede ist klug, wohlwollend, auch freundschaftlich kritisch. Dann passiert es. Schulz wiederholt eine Frage, die ihm ein palästinensischer Jugendlicher bei einem Termin am Morgen stellte: „Wie kann es sein, dass Israelis 70 Liter Wasser am Tag benutzen dürfen und die Palästinenser nur 17?“ Nationalreligiöse Abgeordnete stürmen aus dem Saal, Premier Netanjahu verweigert den Applaus.

Die Zahlen stimmten nicht. Die Stelle stand auch nicht in Schulz’ Manuskript, das seine Mitarbeiter und er sorgfältig redigiert hatten. Er hatte, wenn man so will, schnell noch eine Story erzählt.

Am frühen Abend dieses Wahlkampftages wartet auf dem Rollfeld des Flughafens Dortmund eine Fairchild Metro, zwei Propeller, 19 Sitze. Schulz kriecht geduckt hinein. Der Pilot erklärt kurz, in welcher Buchse man im Fall des Falles die Sauerstoffmaske anschließen soll. Dann startet er durch, die Maschine bebt, die Journalisten schauen sich zweifelnd an. Schulz hat sich in die vorletzte Reihe gequetscht, er erzählt noch schnell eine Story. In ihr kommt ein Regierungschef mit Flugangst vor, Namen tun nichts zur Sache, und Schulz selbst, klar.

Plötzlich faucht es laut in der Decke. Allen Medienleuten steht auf der Stirn geschrieben: Da wird gerade definitiv eine europäische Norm nicht erfüllt. „Ha!“ Schulz’ Stimme übertönt das Fauchen. „Dat passiert jetzt, damit ihr die EU schätzen lernt!“ Ihm macht es wirklich Spaß, dieses Europa.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.