Graphic Novel über Kindheit in Vietnam: „Mein Buch darf da nicht erscheinen“

Wovor sich das Regime in Vietnam auch heute noch fürchtet: eine Graphic Novel über den Krieg aus der Perspektive der Verlierer.

Kinder, die Krieg spielen: Szene aus „Ein schöner kleiner Krieg“. Foto: M.Truong/Egmont Graphic Novel

Frauenfüße in Pumps – eine faszinierende Entdeckung für den vierjährigen Marcelino, als er mit seiner Mutter Yvette seine elegante Tante Elvira besucht. Eine sorglose Kindheit in Vietnam zu Beginn der 1960er Jahre?

Die kindliche Perspektive ermöglicht dem 1957 in Manila geborenen Illustrator Marcelino Truong, einem von vier Kindern eines vietnamesischen Diplomaten und einer Französin, in seiner Graphic Novel „Ein schöner kleiner Krieg“ ein Stimmungsbild von Saigon, der Hauptstadt Südvietnams, zwischen 1961 und 1963 zu geben. Während die Kinder die nicht überhörbaren Berichte über Kämpfe gegen die Vietcong durch eigene „Scharmützelspiele“ verarbeiten, schaukelt sich der Bürgerkrieg immer weiter hoch.

Der Vater, ein Diplomat, wird von Präsident Ngô Dinh Diêm aufgrund seiner USA-Erfahrung als Englischdolmetscher engagiert, während die Mutter angesichts zahlreicher Anschläge in Saigon manisch-depressiv wird. Truong unterbricht die autobiografischen, rot eingefärbten Episoden seines Comics durch blau gehaltene dokumentarische Passagen, die kenntnisreich den politisch-historischen Hintergrund beleuchten.

Diese Teile sind zwar etwas textlastig – als Kontrast zu den unbeschwerten Erlebnissen der Kinder aber wichtig, um die stets über dem Alltag schwebende Bedrohung fassbar zu machen. Stilistisch hält sich Marcelino Truong in seinen Tuschezeichnungen fast akademisch streng an die Klare Linie eines Hergé, was der Graphic Novel – vor allem in den voll kolorierten Deckblättern der einzelnen Kapitel – eine leicht nostalgische Note verleiht.

Wer sind die Guten?

Ganz nebenbei wird deutlich, dass hier eine Geschichte aus der Perspektive der Verlierer des Krieges, der Südvietnamesen, erzählt wird, die durch das Bündnis mit den US-Amerikanern in Verruf gerieten, während die nordvietnamesische Seite oft als die „gute“ dargestellt wurde, obwohl auch sie sich auf starke ausländische Mächte stützte – China und die Sowjetunion.

Marcelino Truong: „Ein schöner kleiner Krieg. Saigon 1961–1963“. Deutsch von Tanja Krämling, Lettering Ronny Willisch. Egmont Graphic Novel, Köln 2015, 272 Seiten, 25 Euro.

Durch die Lektüre ergibt sich ein differenzierteres, ausgewogenes Gesamtbild. Truong betrachtet beide Konfliktparteien kritisch, verdeutlicht auch die zwiespältige Rolle, die der meist allzu einfach als Marionette der USA abgestempelte Präsident Diêm gespielt hat – einerseits verlieh er dem Süden zeitweise eine relative Stabilität, andererseits betrieb er Vetternwirtschaft – gab Familienmitgliedern Funktionen in der Regierung und bevorzugte Katholiken gegenüber anderen Religionsgruppen.

Schließlich entzogen die USA seinem autoritär und nach innen brutal agierenden Regime die Unterstützung. Im Jahr 1963 kam es zum Putsch, bei dem Diêm ermordet wurde. Truongs Vater wiederum stand für ein westlich orientiertes, akademisch gebildetes südvietnamesisches Bürgertum. Dieses wusste, dass der Kommunismus eines Hô Chi Minh Vietnam keine rosige Zukunft verhieß und für sie den Untergang bedeutete.

Marcelino Truong ist Autor, Illustrator und auch Maler.

taz: Herr Truong, was veranlasste Sie dazu, Ihre Kindheit in Saigon zum Ausgangspunkt einer Graphic Novel zu machen?

Marcelino Truong: Ich wollte darüber schon seit Langem erzählen. Obwohl ich erst vier Jahre alt war, als wir in Vietnam eintrafen, und sechs, als wir es im August 1963 verließen, war diese kurze Periode für mich unglaublich reich – sowohl für mich persönlich wie auch durch ihren politisch-historischen Hintergrund. Vor Jahren stieß ich auf ein Bündel Briefe meiner Mutter. Sie hatte von all unseren Wohnorten wöchentlich Briefe an ihre Eltern in der Bretagne geschrieben, von Manila, aus Washington, Saigon und dann London.

Als ich die Briefe aus Saigon las, dachte ich, daraus müsste ich etwas machen. Sie sind sehr lebendig und detailreich geschrieben. So konnte ich die Lücken meiner Erinnerung füllen und unser damaliges Leben rekonstruieren. Als Illustrator erscheint mir die Graphic Novel ein geeignetes Medium für diese biografische Erzählung.

Ihr Vater war Diplomat und wurde 1961 von Washington nach Vietnam beordert. Der Vietnamkrieg köchelte damals bereits auf kleiner Flamme?

In Vietnam angekommen, wurde mein Vater als Dolmetscher für den Präsidenten Ngô Dinh Diêm engagiert, um Gespräche mit englischsprachigen Besuchern zu übersetzen. So arbeitete er täglich im „Unabhängigkeitspalast“. Zudem wurde er Leiter der nationalen Presseagentur. Aus den Briefen meiner Mutter erfuhr ich jetzt viel über den damaligen Untergrundkrieg des Vietcong. Von den Bomben, die manchmal in Saigon hochgingen. Der Krieg entwickelte sich schleichend, am Anfang starben „nur“ etwa 1.000 Menschen im Monat. Journalisten aus aller Welt pflegten Tagesausflüge an umkämpfte Orte zu machen und abends das Nachtleben in Saigon zu genießen. Für diese war es Anfang der 60er Jahre „ein schöner kleiner Krieg“.

Die Südvietnamesen und vor allem der damalige autoritär regierende Präsident Ngô Dinh Diêm galten als Marionetten der USA. Sie zeichnen ein etwas anderes Bild.

Ja, denn die Unabhängigkeit Vietnams war der große Traum, den alle Vietnamesen nach der Befreiung von der Kolonialmacht Frankreich teilten. Aber sie waren zerstritten, wie diese aussehen sollte. Im Jahr 1954 wurde auf der Indochinakonferenz in Genf deshalb die Teilung des Landes beschlossen – in den kommunistisch regierten Norden und einen freien Süden. Im Juli 1956 sollten dann im gesamten Land freie Wahlen stattfinden.

Präsident Diêm bezweifelte aber, dass es im Norden freie Wahlen geben würde, denn dort gab es nur eine Partei. Im Süden suchte die Guerilla National Liberation Front (NLF) die Wahlen zu beeinflussen und die Bevölkerung zu terrorisieren. Also hat er keine Wahlen zugelassen. Durch diesen Fehler kam der Krieg in Gang. Nordvietnam konnte behaupten, um den vermeintlichen Wahlsieg im Süden betrogen worden zu sein.

In Ihrem Buch zeichnen Sie auch viele der damaligen Propagandabilder des Nordens nach.

Das war die große Stärke des Regimes in Hanoi. Sie hatten eine starke Utopie und wussten sie zu verkaufen. Das fehlte uns im Süden.

Sie thematisieren auch eine unausgewogene Berichterstattung über den Krieg durch die internationalen Medien.

Südvietnam hatte während der gesamten Zeit des Konflikts die freie Presse im Land, meist circa 300 Journalisten, die sich frei bewegen konnten. Es gab keine Zensur. Im Norden waren es nur eine Handvoll Journalisten aus den sogenannten Bruderländern wie der DDR. Gezeigt wurden nur vom Regime genehmigte Bilder. Der Westen veröffentlichte auch diese, in denen ausschließlich die Opfer des Nordens zu sehen waren, keine aus Südvietnam und Saigon.

Die Anführer des politischen Protests im Westen begriffen oft nicht, dass es sich dabei auch um Propaganda handelte. Die Gräueltaten Südvietnams und der US-Army wurden in den Medien überproportional dokumentiert, während die zahllosen Kriegsverbrechen, die die NLF beging, kaum Beachtung fanden.

In den letzten 20 Jahren sind Sie oft nach Vietnam gereist. Wie hat sich das Land verändert?

Die Wirtschaft hat sich nach einer langen Durststrecke erholt, Vietnam hat sich – dem Modell Chinas folgend – für den freien Markt geöffnet und so die jahrelange wirtschaftliche Not besiegt. Aber die Elite ist korrupt, das Bildungssystem ist schlecht. Politisch hat sich wenig verändert: Mein Buch darf dort zum Beispiel nicht erscheinen, weil ich den Vietnamkrieg als Bürgerkrieg bezeichne. Offiziell werden weiterhin alle Gegner Hô Chi Minhs als Verräter oder Söldner der USA diffamiert.

Aber die Menschen verändern sich. Sie haben Zugang zum Internet, können die offizielle Version der Partei zur Historie mit anderen Versionen vergleichen. So wird es für das Regime immer schwieriger, die offizielle Linie zu halten. Im Jahr 2013 gab es ein Staatsdekret, dass das Internet nur privat genutzt werden darf, aber nicht für Politik. Die Bürger werden wie Kinder behandelt, Politik darf nur von der Partei gemacht werden, ansonsten muss man mit Gefängnis rechnen. Ich denke, die meisten Vietnamesen wünschen sich heute ein freiheitliches Land und hoffen, dass die Zeit der „Partei“ einmal vorbei ist, es einmal einen friedlichen Wandel zur Demokratie geben wird.

Wie sehen Ihre Pläne aus?

Ich verhandele gerade mit einem englischen Verlag. Das würde mich freuen, wenn auch die vielen vietnamesischen Gemeinden in den USA, England und Australien die Graphic Novel lesen können. Außerdem arbeite ich an einer Fortsetzung über die folgenden Jahre in England, wo wir den Vietnamkrieg als „Wohnzimmerkrieg“ über das Fernsehen verfolgten. Es wird „Give Peace a Chance“ nach John Lennons Song heißen. Ich beschreibe unter anderem, wie uns meine Großeltern aus Vietnam in London besuchten und von der Tet-Offensive 1968 erzählten.

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