Buch über Helmut Schmidt: Der Verführte und die 68er

Der Altkanzler war ein Gestalter der Bundesrepublik. In seiner Verstocktheit war er aber auch ein typischer Repräsentant der Kriegsgeneration.

Ein Portrait steht vor einer Deutschland und einer Europafahne

Auf Schmidts Trauerfeier. Foto: ap

Zeitlebens prägte und beschämte die Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus den Menschen und Politiker Helmut Schmidt. Daraus machte Schmidt, geboren 1918, kein Hehl, wie auch die nächste Woche nun vorgezogen erscheinende Schmidt-Biografie Gunter Hofmanns betont. Hofmanns Buch „Helmut Schmidt – Soldat, Kanzler, Ikone“ erzählt von der Aufrichtigkeit, mit der Schmidt sich 1945 der SPD zuwandte und eine antifaschistische Position bezog.

Wie viele andere Schmidt-Biografen würdigt Hofmann die Verdienste eines tüchtigen Mannes, der aus der Mitte der Gesellschaft stammte und mit denen sich viele der Kriegsgeneration identifizieren konnten.

Schmidt kam aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war überaus streng, züchtigte den Sohn. Doch glaubte er auch an den Aufstieg durch Bildung und schickte seinen Sohn in Hamburg auf die eher antiautoritär orientierte Lichtwark-Reformschule. Im Zuge der Gleichschaltung nach 1933 wurden auch hier die antifaschistischen Lehrkräfte und jüdischen Schüler entfernt. Schmidt hingegen machte sein Abitur 1937 und wurde im selben Jahr zur Wehrmacht eingezogen.

Laut Hofmann und anderen Biografen ahnte Schmidt nichts vom heraufziehenden Krieg. Doch er sollte fortan acht Jahre Soldat und Offizier bleiben. 1941 diente er an der Ostfront, hatte aber Glück, da er als Ausbilder bald nach Berlin zurückbeordert wurde. Rückblickend bezeichnete er sich als loyalen, pflichtbewussten Patrioten, der die Nazis nicht mochte, aber doch Hitler – zumindest am Anfang des Krieges – auch bewunderte. Er schrieb dies später seinem jugendlichen Alter, dem autoritären („unpolitischen“) Elternhaus sowie den Verführungskünsten der NS-Propagandisten zu.

Holocaust? Nichts mitbekommen

Die Widersprüchlichkeit einer Person, die neben Willy Brandt und Herbert Wehner maßgeblich an der Modernisierung der SPD, der Etablierung einer Demokratie in der Bundesrepublik, an Westbindung und Ostaussöhnung beteiligt war, macht Hofmanns Biografie eindrücklich deutlich. Eines Menschen, der vor 1945 in Kontakt mit dem Widerstand kam und sich nicht für ihn entscheiden mochte, auch wenn er sich zu einer jungen Frau wie Cato Bontjes van Beek hingezogen fühlte, die als Antifaschistin 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Aber auch eines Menschen, der in Ton und Ausstrahlung paradigmatisch die schneidig-verstockte Väter-Kriegsgeneration repräsentierte, gegen die die 68er so heftig rebellierten, ja unausweichlich rebellieren mussten.

Zu Hause, in den deutschen Stuben, sprach man im Allgemeinen zumeist wenig über den „Scheißkrieg“ (Schmidt). Und im Besonderen noch weniger über den Holocaust und den Vernichtungskrieg, den die deutschen Männer, die deutsche Wehrmacht zusammen mit den Verbänden der SS in ganz Osteuropa führten. Und wovon Helmut Schmidt als Soldat ebenso wie seine Kameraden, wie er stets behauptete, nichts mitbekamen.

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Erst gegen Ende von Schmidts aktiver politischer Laufbahn sickerte ab 1984 langsam durch, dass sein Vater, das uneheliche Kind, großväterlicherseits selbst jüdischer Abstammung war. Dass die Schmidts dies nach 1933 geheim hielten und verbargen, ist nur zu verständlich. Dass er sich aber in der Bundesrepublik so lange über diese Geschichte ausschwieg und auch darauf beharrte, die Gräuel des Holocausts erst nachträglich erfahren zu haben, hielt ihm sogar seine Tochter später vor. Der Geschichte mit dem jüdischen Vorfahren verlieh Schmidt mit steigendem Alter größere Autorität. Doch warum hatte sich der „eiserne Kanzler“ nicht schon früher dazu bekannt?

Fürchtete er wie Herbert Frahm, der seinen Decknamen Willy Brandt aus der Zeit des Widerstands in der Bundesrepublik als bürgerlichen Namen behielt, als Vaterlandsverräter verleumdet zu werden? Oder ebenfalls untauglich für die Mitte der Wählerschichten zu werden wie Herbert Wehner, der Exilant, Untergrundkämpfer und geläuterte Kommunist? Man weiß es nicht. Der Staatsmann Schmidt schwieg sich über solche „privaten“ Dinge – wie seine traumatisierte Generation in der Regel – eher aus.

Hofmanns Biografie zeigt, wie mutig Schmidt Brandt gegen die fortwährenden Denunziationen in Schutz nahm und verteidigte. Aber auch wie befangen Schmidt blieb, sofern es um seine eigene Geschichte ging. Und das, obwohl er sich aufrichtig nach 1945 vor den Verbrechen Nazideutschlands ekelte und davon politisch glaubwürdig häufig distanzierte.

Ein sehr junge Schmidt lächelt mit schiefen Zähnen in die Kamera.

Juli 1943: Helmut Schmidt mit Ehefrau Loki. Foto: Imago/Sven Simon

Er blieb wohl für immer beschämt, befangen, verstrickt. Und reagierte wohl auch deshalb so unerbittlich auf die Neue Linke der Bundesrepublik, der Dank Reeducation und Auschwitzprozessen in den 1960er Jahren die Augen ob der Monstrosität der im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen geöffnet wurden. Und die zumindest teilweise in den kompletten Ausstand gegen die im Wirtschaftswunder schwelgende, aber über den Faschismus schweigende Elterngeneration trat.

Wer Schmidt heute in den Nachrufen für seine Standfestigkeit gegenüber dem Terror der RAF 1977 feiert, sollte nicht vergessen, dass auch die damalige Sozialdemokratie polarisierend wirkte und Verantwortung an seiner Entstehung trägt. „Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt“ – solchermaßen erklärte Berlins Polizeipräsident Erich Duensing seine Polizeitaktik für den 2. Juni 1967.

Hofmann, Gunter: „Helmut Schmidt – Soldat, Kanzler, Ikone“, 2015, 464 Seiten, C.H.BECK.

Ganze 400 protestierende Studenten galt es beim Besuch des Schahs von Persien in Schach zu halten. Duensing schickte seine „Füchse“, zivile Polzeigreifer und -schläger, viele von ihnen NS-sozialisiert. Der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss an diesem Tag den Pazifisten Benno Ohnesorg, aller Wahrscheinlichkeit nach vorsätzlich. Kurras wurde dafür nie verurteilt, später sogar noch zum Polizeiobermeister befördert.

1968 erreichte die Hetze des Boulevards eine solche Schärfe, dass sich ein Neonazi ermächtigt fühlen konnte, Rudi Dutschke, dem Anführer des Berliner SDS, in den Kopf zu schießen. Die Gewalt steckte in der Mitte dieser noch stark von Nazismus und Krieg geprägten Gesellschaft, in der sich auch ein soldatisch wirkender Demokrat wie Helmut Schmidt befand. Cool war das damals nicht. Auch wenn sich der Rauch der Geschichte im Laufe der Jahre hinter dem Nebel seiner Mentholzigaretten zu verziehen begann.

Schmidt grollte jedoch bis zuletzt jenen, die ihn aus der Neuen Linken und den Grünen kritisierten. Hatte er nicht alles für den Wiederaufbau und ein antifaschistisches Deutschland getan?

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