Moskau schaltet sich in „Fall Lisa“ ein: Kreml wittert Vertuschung

Russland kritisiert den Umgang mit „Fall Lisa“. Die Berliner Polizei weist den Vergewaltigungs-Verdacht der Russlanddeutschen zurück .

Viele Menschen stehen auf der Straße. Sie halten Schilder hoch, auf denen steht: "Leben ohne Angst"

Russlanddeutsche in Villingen-Schwenningen: Sie misstrauen der Polizei, wollen aber mehr Sicherheit. Foto: dpa

BERLIN taz | Der „Fall Lisa“ erreicht nun auch Moskau. Am Dienstag sprach Russlands Außenminister Sergei Lawrow auf einer Pressekonferenz den Fall an – mit drastischen Worten. Er hoffe, „dass es keine Wiederholungen solcher Fälle gibt wie mit unserer Lisa“. Das Mädchen sei „ganz klar nicht freiwillig 30 Stunden verschwunden gewesen“. Den deutschen Behörden warf Lawrow vor, „die Realität aus innenpolitischen Gründen politisch korrekt zu übermalen“.

Damit hat der Fall nun die höchste diplomatische Ebene erreicht und wächst sich zur Staatsaffäre aus. Es geht um ein 13-jähriges Mädchen aus einer russlanddeutschen Familie in Berlin-Marzahn, das am 11. Januar von ihrer Familie als vermisst gemeldet wurde. Am Tag darauf tauchte es wieder auf. Es verbreitete sich das Gerücht, sie sei von arabischen Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Berliner Polizei dementiert die Vorwürfe: „Nach den Ermittlungen unseres LKA gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung.“

Doch in den russischsprachigen Kreisen in Deutschland kochen die Emotionen hoch. Bundesweit organisierte die Community am Sonntag Protestkundgebungen. Befördert wird das Misstrauen durch das russische Staatsfernsehen, das den Vorwurf der Vergewaltigung als Fakt behandelt. Dort ist von einem medizinischen Gutachten die Rede, in dessen Besitz die Familie angeblich sei. Und der Berliner Polizei wird vorgeworfen, Druck auf das Mädchen ausgeübt zu haben, damit diese ihre Aussage zurückziehe.

In TV-Beiträgen kamen zudem russlanddeutsche Protestierer zu Wort, die von ähnlichen Vorfällen berichteten, die angeblich vertuscht würden – ohne dass diese Behauptungen belegt wurden. Das russische Staatsfernsehen erreicht in Deutschland bis zu 6 Millionen Zuschauer.

Tausende Russlanddeutsche demonstrierten

Der Konstanzer Anwalt Martin Luithle hat den Berlin-Korrespondenten des russischen Staatssenders „Kanal 1“ wegen Volksverhetzung angezeigt. Da dieser seine TV-Beiträge in Berlin produziere, gelte für ihn deutsches Recht. „Kurz darauf wurde meine Homepage zerstört“, berichtet Luithle der taz. Auch habe der Staatssender in einem Bericht mehrere Bilder von ihm eingeblendet, ein Sprecher der russischen Botschaft in Berlin unterstellte Luithle Profilierungssucht.

Die Berichte verfangen offenbar. Allein in Hamburg versammelten sich am Sonntag mehr als 1.000 Russlanddeutsche auf dem Rathausmarkt. „Wir fordern die Aufklärung der Vergewaltigung“, hieß es dort. Und: „Kriminalität muss bestraft werden.“

Auch in Berlin versammelten sich 700 Menschen vor dem Kanzleramt, um „gegen sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen gegen Frauen und Kinder“ zu protestieren. Organisiert wurde der Marsch vom „Konvent der Russlanddeutschen“. Deren Vorsitzender Heinrich Groth engagiert sich seit den frühen neunziger Jahren bei den „Republikanern“ und anderen weit rechts stehenden Parteien. Auch Neonazis und Anhänger des Berliner Pegida-Ablegers „Bärgida“ beteiligten sich am Sonntag.

Forscherin Ljudmila Belkin

„Das Vorgehen der russischen Medien ist enorm gefährlich“

Auch in Bayern und Baden-Württemberg gingen Tausende auf die Straße, etwa in Augsburg, Regensburg, Pforzheim oder Lahr. Sie empörten sich, dass die Polizei in ihren Verlautbarungen zunächst von einem „einvernehmlichen sexuellen Kontakt“ sprach – was im Fall einer 13-Jährigen auch dann strafbar wäre, wenn es sich nicht um eine Vergewaltigung handelte. Auch dass die meisten deutschen Medien dem mutmaßlichen Opfer keinen Glauben schenken und ebenso von einer „angeblichen Vergewaltigung“ sprechen, sorgte für Unmut.

Der Anwalt der betroffenen Familie, Alexej Danckwardt, bleibt dabei, dass es sich um eine Entführung und Vergewaltigung gehandelt habe. An „Spekulationen“, woher die mutmaßlichen Täter stammten, wolle er sich nicht beteiligen. Dass es sich um Flüchtlinge gehandelt haben könnte, hält er aber für eher unwahrscheinlich. Der russischstämmige Strafverteidiger sitzt in Leipzig für die Linkspartei im Stadtrat und soll hinter der Internetseite „Antimaidan Deutsch“ stehen, die sich im Ukraine-Konflikt auf die russische Seite geschlagen hat. Auch dadurch erhält der Fall zusätzliche Brisanz.

Walter Gauks vom Jugendverband der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland warnt vor Verallgemeinerungen. Drei Millionen Russlanddeutsche lebten in Deutschland, nur ein Bruchteil sei zu den Demonstrationen gegangen. „Die absolute Mehrheit hat den Fall zwar wahrgenommen und diskutiert ihn auch, ist aber besonnen genug, die Aufklärung durch die Behörden abzuwarten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.“ Gauks äußert aber auch Verständnis für die Proteste: „Wenn es um die eigenen Kinder geht, reagieren viele Menschen emotional.“

Für die Migrationsforscherin und Osteuropa-Historikerin Ljudmila Belkin sind Konflikte zwischen Migrantengruppen „in einer Einwanderungsgesellschaft normal“. Viele Migranten hätten zudem ein begründetes Misstrauen gegenüber den Behörden. „In der NSU-Affäre hat man den Familien der Opfer ja auch nicht geglaubt“, erinnert Belkin. Die russischen Medien versuchten nun „auf aggressive Weise, diese Leute einzugemeinden. Das ist enorm gefährlich.“

Belkin wünscht sich aber auch von deutschen Behörden und Medien mehr Sensibilität. „Mich ärgert, dass die deutschen Medien so wenig mit den russlanddeutschen Bürgern reden.“ Dann dürfe man sich nicht beschweren, wenn dies die russischen Medien täten.

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