Ökonomische Ungleichheit in Deutschland: Das Zauberwort heißt Umverteilung

Für ein neues Armutsverständnis: Wer das Elend von Flüchtlingen zur Messlatte für Armut macht, verhindert eine Debatte über Ungleichheit.

Drei Türen aus Holz, von groß bis klein

Glaubt man dem Koalitionsvertrag, gibt es in Deutschland keine Armut. Ungleiche Zugänge zum Wohlstand gibt es aber auf jeden Fall. Foto: photocase/Francesca Schellhaas

Für manche Politiker, Wissenschaftler und Journalisten existiert Armut nur dort, wo Menschen total verelenden oder wie Vieh auf den Straßen eines sogenannten Dritte-Welt-Landes verenden. Sie würden den Begriff „Armut“ am liebsten so eng fassen, dass in der Bundesrepublik davon kaum noch die Rede sein könnte.

Dieser Haltung liefert die Flüchtlingsfrage nun zusätzliche Munition. Denn im Zentrum des Armutsdiskurses steht nicht mehr der Hartz-IV-Bezug, sondern das „Dritte-Welt-Elend“ der Geflüchteten.

Je krasser die Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermögen in einem reichen Land wird, umso mehr wächst der Drang, dortige Armut auf krasse Notlagen und Flüchtlingselend zu reduzieren. Das „importierte“ Elend darf aber nicht zur Messlatte für Armut im Wohlstand gemacht werden.

Umgekehrt gilt: Je entwickelter eine Gesellschaft ist, desto weiter sollte ihr Armutsverständnis sein. Ein hoher Lebensstandard fördert die soziale Ausgrenzung von Menschen, deren Einkommen nicht reicht, um in prestigeträchtigen Konsumbereichen „mitzuhalten“ und sich gleichberechtigt am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu beteiligen.

Armutsdiskurse im Wandel

Jahrzehntelang war Armut in der Bundesrepublik ein Tabuthema, das die Öffentlichkeit höchstens in der Vorweihnachtszeit bewegte. Als die (Angst vor der) Armut durch Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vordrang und sich dort zu verfestigen begann, avancierte Armut zu einem Modethema, das in TV-Talkshows zerredet wurde.

Vor zwei Jahren warf die CSU rumänischen und bulgarischen Arbeitsmigrant(inn)en mit ihrer Kampagne „Wer betrügt, der fliegt!“ vor, rechtswidrig in „unsere Sozialsysteme“ einzuwandern und die Armut ihrer Herkunftsländer einzuschleppen. Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in Deutschland sonst praktisch keine Armut.

Seit geraumer Zeit wird in Medien und politischer Öffentlichkeit nicht zuletzt durch die monothematische Behandlung der „Flüchtlingskrise“ beständig Sozialneid geschürt.

Seit geraumer Zeit wird in Medien und politischer Öffentlichkeit nicht zuletzt durch die monothematische Behandlung der „Flüchtlingskrise“ beständig Sozialneid geschürt. Statt die Probleme und damit auch die Armut der Geflüchteten zu thematisieren, befassen sich Politiker und Publizisten mit den Problemen, die Flüchtlinge und andere Migranten machen.

Dabei könnte in einer Zuwanderungsdebatte, die sich primär um die – angebliche oder wirkliche – Mehrbelastung des Staatshaushalts durch „Flüchtlingsströme“ dreht, endlich einmal die extreme Verteilungsschieflage in Deutschland skandalisiert werden.

Klassische und neue Armutsbegriffe

Während viele Menschen im Begriff der Armut nur ein Synonym für Not und Elend in den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge sehen, erkennen andere darin auch die beschämendste Ausprägung der sozialen Ungleichheit im eigenen Land. Der „klassische“ Armutsbegriff, welcher von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Neuzeit im Gebrauch war, bezog sich auf die Frage, ob jemand mehr besaß, als er zum Überleben benötigte.

Wer dieses Kriterium heute noch anlegt, verschließt sich der Erkenntnis, dass ein moderner Armutsbegriff differenzierter sein muss, weil er mit zu berücksichtigen hat, in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt und wie groß der ihn umgebende Wohlstand ist.

Die Menschheit hat ein Gewaltproblem. Kann man das ändern, wenn man den Nachwuchs entsprechend erzieht? Lesen Sie mehr darüber in der taz.am wochenende vom 13./14. Januar 2016. Außerdem: Ryan Gattis hat einen genau recherchierten Roman über die L.A. Riots geschrieben – "In den Straßen die Wut". Und: Batumi in Georgien ist eine absurde Stadt, besonders im Winter. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in sich entwickelnden und in Wohlstandsgesellschaften sollte man zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits unterscheiden. Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für sein Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sauberes Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, ein Dach über dem Kopf und eine medizinische Basisversorgung entbehrt.

Von relativer Armut ist betroffen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber mangels finanzieller Ressourcen nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann und den üblichen Lebensstandard deutlich unterschreitet.

Weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens

Lebt der Betroffene im zuerst genannten Fall am physischen Existenzminimum, verfehlt er im zuletzt genannten Fall das soziokulturelle Existenzminimum, was den Ausschluss von normalen sozialen, kulturellen und politischen Aktivitäten bedeutet. Selbst das physische Existenzminimum und die Grenze zur absoluten Armut sind nur schwer festzulegen, weil sie beispielsweise davon abhängen, ob jemand in einem warmen oder einem kalten Land lebt: Wer in Sibirien keinen Pullover besitzt, ist höchstwahrscheinlich arm; wer in Sierra Leone keinen Pullover besitzt, ist es deshalb noch lange nicht.

Relative Armut hat weniger mit Not und Elend zu tun als mit Reichtum, der sehr ungleich verteilt ist. Wer eine zu große soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft anerkennt und ihren Ausdruck in relativer Einkommensarmut sieht, der akzeptiert damit zumindest implizit die Legitimität und Notwendigkeit einer Umverteilung von oben nach unten. Hier dürfte ein Grund dafür liegen, warum die Existenz relativer Armut oft gerade von denen geleugnet wird, die zu den Privilegierten, Besserverdienenden und Vermögenden gehören.

Laut einer EU-Konvention wird das Ausmaß der relativen Armut in den Mitgliedstaaten bestimmt, indem man die Quote derer ermittelt, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Die Armuts(gefährdungs)quote gibt an, wie weit der untere soziale Rand von der Mitte, anders formuliert: von bürgerlicher Respektabilität, entfernt ist.

Wohlstandszuwachs auch für Arme?

Nichts anderes bedeutet relative Armut. Absolute Geldbeträge wären für einen Vergleich der sozialen Situation in den EU-Staaten ungeeignet, weil die Lebenshaltungskosten stark differieren und man von 500 Euro Monatseinkommen in dem einen Land gut leben, in dem anderen jedoch noch nicht einmal ein Zimmer mieten kann. Dies unberücksichtigt zu lassen, hieße, auf einen realistischen Armuts- und Reichtumsbegriff zu verzichten.

Weil der Armutsbegriff relativ ist und das 60-Prozent-Maß bei der Einkommensarmut willkürlich, bieten sich Kritikern, die für soziale Ungleichheit wenig sensibel sind, Angriffsflächen. Auch Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles mokierte sich zuletzt darüber, wie man in der EU die Armuts(risiko)grenze bestimmt: „Angenommen, der Wohlstand in unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das Ausmaß an Armut gleich.“

Tatsächlich ist aber kaum anzunehmen, dass ein solcher Wohlstandszuwachs auch den Armen zugutekäme. Würden sich die Einkommen aller Bewohner/innen eines Landes verzehnfachen, wären die Armen vermutlich immer noch arm, weil Preise und Lebenshaltungskosten im selben Maße steigen und einen realen Wohlstandsgewinn verhindern würden.

Wenn die Armutsdefinition primär auf Existenzprobleme abstellt, nützt den Betroffenen keine Umverteilung von oben nach unten.

Sie wären aber kaum weniger marginalisiert, weil sich ihre Einkommensposition innerhalb der Gesellschaft eher verschlechtern würde: Wer vorher 800 Euro im Monat verdient hat, käme jetzt auf 8.000 Euro; wer vorher 8.000 Euro im Monat zur Verfügung hatte, käme jetzt auf 80.000 Euro. Betrug die Differenz zwischen Gering- und Besserverdienenden in unserer Beispielrechnung anfangs 7.200 Euro, so beträgt sie nachher satte 72.000 Euro.

Die Große Koalition schafft Arme

Trotzdem favorisierte Nahles den absoluten Armutsbegriff und erwähnte in diesem Zusammenhang illegale – genauer: illegalisierte – Einwanderer und jüngere Erwerbsgeminderte, bei denen man es mit „wirklicher Armut“ zu tun habe. Das passt zur Politik der Großen Koalition, die durch ihre „Asylpakete“ und sukzessive Gesetzesverschärfungen mehr Ausweisungen und Abschiebungsbescheide erzeugt. Dadurch erhöht sich die Zahl der Migrant(inn)en ohne Aufenthaltsstatus, die untertauchen und ihren Lebensunterhalt fortan ohne Sozialleistungen bestreiten müssen.

Dem nächsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, den Nahles für Ende 2016/Anfang 2017 ankündigte, wird laut ihren Worten ein modifiziertes Begriffsverständnis zugrunde liegen. Wenn die Armutsdefinition primär auf Existenzprobleme abstellt, was zu befürchten ist, nützt den Betroffenen keine Umverteilung von oben nach unten. Diese Forderung lässt sich als Propaganda von linken Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Religionsgemeinschaften abtun.

Wer nach mehr sozialer Gerechtigkeit strebt, muss sich daher gegen die Verengung des Begriffs „Armut“ auf Not und Elend ebenso zur Wehr setzen wie gegen seine Verdrängung aus dem öffentlichen Diskurs.

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