Freie Theaterszene Berlin: Festival der Superlative

Beim ersten Performing Arts Festival Berlin präsentiert sich ab Montag die freie Theaterszene der Stadt in ihrer ganzen Vielfalt.

Ibsen: Peer Gynt ist in den Sophiensaelen zu sehen Foto: Paula Reissig

Es ist, das kann man wohl so sagen: ein Festival der Superlative. Das größte, weitläufigste und vielfältigste Festival der performativen Künste, das Berlin (oder auch Deutschland) bisher gesehen hat. Mehr als 120 Produktionen in 279 Veranstaltungen. An 56 Spielstätten und -orten.

All das abseits des etablierten Theaterbusiness, denn beim ersten „Performing Arts Festival Berlin“, das in der Woche vom 23. bis zum 29. Mai stattfindet, präsentiert sich die freie Szene. In diesem Maßstab hat es das vorher noch nicht gegeben. Die Vorläuferversion, das 100º-Festival, das seit 2003 im Hebbel am Ufer (HAU) und den Sophiensælen stattfand, war nicht einmal halb so groß.

Die Szene sei inzwischen so stark gewachsen, sagt Susanne Chrudina, leitende Festival- und Programmkoordinatorin des Performing Arts Festival, dass es an der Zeit gewesen sei, ihrer Präsentation einen neuen, umfassenden Rahmen zu geben. Als initiierende Häuser fungieren außer dem HAU und den Sophiensælen das Ballhaus Ost und der Theaterdiscounter. Sie dienen auch als Spielstätte, aber nur für einen kleinen Teil der Produktionen.

„Die beteiligten Gruppen müssen über ihren eigenen Spielort verfügen“, erklärt Susanne Chrudina. „Im Verhältnis zur Festivalgröße haben wir verschwindend wenig Geld zur Verfügung.“ Produktionszuschüsse oder Honorare für die Teilnehmenden gibt es nicht. Der Vorteil, am Festival teilzunehmen, liegt vor allem in der verstärkten öffentlichen Wahrnehmung.

Und die ist gar nicht hoch genug zu schätzen, denn bei der Größe der Stadt und der Vielfalt der Szene ist es für das interessierte Publikum wahrlich nicht leicht, sich zurechtzufinden und vielleicht auch einmal den Weg an die Ränder der Szene (und der Stadt) zu finden.

Performing Arts Festival Berlin: Unterschiedliche Orte, 23.–29. 5., Programm unter www.performingarts-festival.de

Natürlich treten auch bereits etabliertere Künstler wie Bridge Markland oder die Gruppe Gob Squad im Rahmen des Festivals auf, und natürlich finden viele Veranstaltungen im gewohnten räumlichen Ambiente eines Theatersaals statt. Doch auch wer zum Beispiel im Theatergestühl Beklemmungen kriegt, aber gern zu Fuß unterwegs ist, wird bedient.

Mit der Gruppe Écoleflaneurs kann das träumerische Flanieren rund ums verrufene Kottbusser Tor erprobt werden, und die Produktion „Walking with Ghosts“ unternimmt einen gestalteten Indoor-Spaziergang im ehemaligen Stummfilmkino Delphi in Weißensee. Wer dagegen lieber sitzt, sich dabei aber am allerliebsten vorwärts bewegt, kann sich für die geführte Rikscha-Tour „Places & Traces“ von MS Schrittmacher durch Berlin-Mitte anmelden.

Und wenn man schon immer heimlich vom Besuch eines Nagelstudios träumte, sich aber wegen kulturell bedingter Vorurteile nie in eines traute, hat man im Rahmen des Festivals die Möglichkeit, Kultur und Styling in Einklang zu bringen. Die studierten angewandten Theaterwissenschaftler Hendrik Quast und Maika Knoblich werden mit ihrer mobilen Nagelbar in den Sophiensælen für das optische Tuning der Festivalbesucher sorgen.

Das Ganze umweht eine unprätentiöse Anmutung von Weltläufigkeit

In der Kategorie „originellste Spielorte“ wiederum sticht zweifellos die Prenzlauer-Berg-Privatwonung des Schauspielers Max Howitz heraus, der dort drei Tage lang die Ein-Mann-Performance „All Tag“ aufführt.

Diese Produktion ist übrigens nicht für Katzenhaarallergiker geeignet, da eine Katze dort wohnt, auch nicht für Rollstuhlfahrer, da die Wohnung ohne Aufzug im ersten Stock gelegen ist. Gut eignet sie sich aber für nicht des Deutschen mächtigen Berlinbesuch, denn Howitz performt auch in Englisch. Wann genau, lässt sich dem Internet entnehmen.

Die übersichtlich gestaltete Website des Festivals ist bei der Fülle des Angebots unverzichtbar als Programmgestalter. Auch wenn manche Querverweise fehlen oder vergessen wurden – zum Beispiel führen von den Veranstaltungsorten keine Links auf dort stattfindende Veranstaltungen –, bietet die Programmübersicht sehr gute Möglichkeiten zur individuellen Suche.

Nicht nur Sprech-, Musik- oder Tanztheater lässt sich per einzelner Filterfunktion finden, sondern auch speziellere Kriterien wie „für internationales Publikum geeignet“, „barrierefrei“ oder „Site Specific“ können abgefragt werden. Für alle Produktionen lassen sich vorab online Karten bestellen, die Preise sind extrem bezahlbar, für viele Veranstaltungen gibt es Mengenrabatt, und bei etlichen ist der Eintritt gleich ganz frei (auch am ersten Festivalabend, die Mitternachtssuppe im Theaterdiscounter. First come, first serve …).

Das Ganze umweht eine unprätentiöse Anmutung von selbstverständlicher, selbst gemachter Weltläufigkeit. Nicht nur, dass die zahlreichen zweisprachigen Produktionen geeignet sind, internationales Publikum anzuziehen. Auch das gerade wieder so aktuelle Thema Migration hat ihren Platz.

„Intime Fremde (Welcome Project)“ nennt sich ein performatives „Rechercheprojekt“ über Grenzen, Staaten und Identitäten. In der Kunstfabrik am Flutgraben findet eine Doku-Performance zur Aktion „Herz der Finsternis“ des Theaters der Migranten statt, während deren auch in einem Mini-Workshop die Kunst erlernt wird, aus Milchtüten Boote zu falten.

Zur Internationalität des Festivals sagt Susanne Chrudina wie selbstverständlich: „Na ja, Paris in den 20ern, New York in den 60ern, das waren auch Biotope, die sehr international waren.“ Ja, stimmt. Solange Berlin noch so ein Biotop ist, sollte man es einfach genießen.

Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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