Schwuler Imam über Glauben und Hass: „Der Prophet verteidigte Minderheiten“

Ludovic-Mohamed Zahed lebt in Frankreich, ist schwul – und Imam. Ein Gespräch über die Morde von Orlando, Homophobie im Islam und die Auslegung des Koran.

Ein Porträtfoto des schwulen Imams Ludovic-Mohamed Zahed

Ludovic-Mohamed Zahed geht voran Foto: Claude Paris

taz: Herr Zahed, die LGBT-Community trauert, weil ein Amokläufer in einem queeren Nachtclub in Florida 49 Menschen getötet hat. Der Täter berief sich auf den „Islamischen Staat“. Sollten queere Menschen Angst vor dem Islam haben?

Ludovic-Mohamed Zahed: Als queere Menschen müssen wir uns im Klaren sein, dass wir durchaus zum Ziel faschistischer Fanatiker werden können. Aber diese Terroristen sind Lügner, die sich mehr für Geld und Macht interessieren als für Spiritualität. Wir brauchen volle Solidarität mit den Opfern, ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Glaubens. Und wir sollten generell daran denken: Die primären Opfer dieses neuen Faschismus, der sich hinter einer islamistischen Fassade versteckt, sind die muslimischen BürgerInnen.

Sie sind Imam und leben offen schwul, Sie waren mit einem Mann verheiratet und haben auch schon gleichgeschlechtliche Ehen geschlossen. Sind sie ein Revolutionär?

Ich würde sagen, ich trage meinen Teil zur Revolution bei. Für mich steht fest: Wäre der Prophet Mohammed – Friede sei mit ihm – heute am Leben, er würde Schwule, Lesben und Transmenschen verheiraten.

Warum glauben Sie das?

In seiner Gefolgschaft waren Menschen, die man die „Mu­khan­nathun“ nannte und die eine Geschlechtsidentität zwischen der von Männern und Frauen hatten. Sie sind vergleichbar mit den Hijras, dem anerkannten dritten Geschlecht im heutigen Indien. In den Hadithen, der mündliche Tradition des Islam, wird berichtet, dass jemand die Mukhannathun töten wollte. Der Prophet gewährte ihnen daraufhin Schutz in seinem Haus. Aus unserer heutigen Sicht könnte man also sagen, dass der Prophet sexuelle und geschlechtliche Minderheiten verteidigt hat.

Andererseits steht auch im Koran die Geschichte von Sodom und Gomorrha. GegnerInnen sexueller Gleichberechtigung lesen diese Stellen als Beleg dafür, dass Homosexualität Sünde im Islam sei: Gott habe die Städte zerstört, weil die Menschen dort gleichgeschlechtlichen Sex hatten. Wie verstehen Sie den Text?

Bei Sodom und Gomorrha geht es überhaupt nicht um sexuelle Minderheiten – weder im Koran, noch in der Bibel oder der Tora. Es geht um rituelle Vergewaltigung. Der Koran ist hier eindeutig. Die über 70 Verse zu Sodom und Gomorrha sprechen von Gewalt und Vergewaltigung. Die Menschen von Sodom und Gomorrah verehrten Ishtar, eine Gottheit der Liebe und des Krieges, die zu dieser Zeit zwischen Ägypten und Mesopotamien verehrt wurde. Die Gläubigen opferten ihr die Jungfräulichkeit ihrer Mitmenschen – von Männern wie Frauen. Der Koran verbietet das eindeutig – aber was soll das mit Schwulen und Lesben zu tun haben? Das ist nichts weiter als semantisches Hijacking.

Der 39-jährige Theologe und Anthropologe wurde in Algerien geboren und lebt in Frankreich.

Er bezeichnet sich als „inklusiver Imam“.

Im Jahr 2011 heiratete Zahed als erster französischer Muslim einen Mann (in Südafrika).

Und doch heißt es dort an einer Stelle, 7. Sure, Vers 81: „Ihr gebt euch in Sinnenlust wahrhaftig mit Männern ab, statt mit Frauen. Nein, ihr seid ein Volk, das nicht maßhält.“ Wird Sex zwischen Männern da nicht eindeutig verurteilt?

Wenn man will, kann man mit Textstellen aus dem Koran alles belegen, was man möchte, denn es ist ein metaphorischer Text. Wir müssen den Koran jedoch zusammenhängend verstehen – nicht da und dort eine Partie herausgreifen und übersetzen, wie wir wollen.

Gerade Ihnen könnte man aber vorwerfen, Sie legten den Koran so aus, wie es Ihnen passt.

Jeder legt den Koran so aus, wie es ihm oder ihr passt. Aber natürlich wird man uns Minderheiten vorwerfen, genau das zu tun. Dass passt gut zum Vorurteil, dass wir Schwule unehrlich seien. Wir müssen aber einsehen, dass der Koran als Text immer in einem historischen Zusammenhang steht. Man muss die Worte im Kontext ihrer Niederschrift verstehen – sonst wird man am Ende den Text verehren und nicht Gott, der seine Essenz ist.

2010 gründete Ludovic-Mohamed Zahed „Homosexuels Musulmans de France“ sowie 2012 eine „inklusive Moschee“ im Pariser Stadtteil Montmartre.

Zahed ist Autor von „Le Coran et la chair“ (in engl. Übersetzung „Queer muslim marriage“), in dem er seine Erfahrungen als gleichgeschlechtlich liebender Mann im salafistischen Milieu aufarbeitet.

Sein nächstes Buch über sexuelle Minderheiten im algerischen Bürgerkrieg erscheint im September. Zahed bietet Workshops für queere Menschen muslimischen Glaubens an.

Lässt sich Homophobie allein durch ein neues Verständnis der Schrift bekämpfen?

Sicherlich nicht. Eine Neuinterpretation reicht nicht aus, um Homophobie und Transphobie – oder auch Judeophobie – im modernen Islam zu bekämpfen. Aber sie ist eine Säule davon. Eine andere ist, die Geschichte zu verstehen. Zu verstehen, dass die islamische Welt als Zivilisation in der Krise ist. Gesellschaften neigen in Krisenzeiten dazu, Minderheiten zu entmenschlichen – sexuelle, ethnische oder religiöse. Dieses Problem müssen wir analysieren, um es zu bekämpfen.

Eine Analyse kommt aus der Postkolonialen Theorie und besagt, dass der Westen die Homophobie in den Islam getragen hat – dass islamische Kulturen zuvor weder ein Konzept von noch ein Problem mit gleichgeschlechtlichem Begehren hatten.

Das ist zu simpel. Die postkolonialen ForscherInnen wollen helfen, aber manchmal sprechen sie einfach den arabischen Kulturen ihre Autonomie ab. Selbstverständlich gab es Homophobie auch in vorkolonialen arabischen Gesellschaften. Es gab auch Kategorien von Geschlecht und Begehren. Wir müssen nicht behaupten, arabische Gesellschaften seien voller dummer Idioten gewesen, die nie über Sexualität oder Geschlecht gesprochen hätten. In einem stimme ich der Postkolonialen Theorie jedoch zu: Wir finden heute in arabisch-muslimischen und auch in nicht-muslimischen afrikanischen Staaten eine besondere, staatlich institutionalisierte Homophobie. Diese hat ihren Ursprung im Kolonialismus.

In Deutschland wird gegenwärtig darüber gestritten, ob der Islam mit europäischen liberalen Gesellschaften zusammenpasst. Manche, die dagegen argumentieren, behaupten, der Islam sei homophob. Haben sie recht?

„Den Islam“ gibt es nicht. Es gibt nur Muslime, die sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, was wir „Islam“ nennen. Es gibt keinen „Herrn Islam“, den man anrufen kann, um zu fragen, was er – oder sie – von diesem oder jenem hält. Selbstverständlich können aus dem Islam, so wie aus jeder Zivilisationsform, Faschismus und Totalitarismus hervorgehen. Aber das passiert in allen Gesellschaften hin und wieder, speziell in Krisenzeiten. Der spirituelle Islam ist im Kern humanistisch, aber natürlich setzt ihn niemand perfekt um. Nicht einmal der Prophet, Friede sei mit ihm, verstand die Essenz des Islam immer in Gänze – was nicht heißt, dass er sich nicht angestrengt hat, so sagt es der Koran. Im spirituellen Islam geht es darum, sich anzustrengen, verständnisvoll und humanistisch zu sein. Er hat nichts mit Politik und Ideologie zu tun und ganz gewiss nicht mit Diskriminierung.

Es ist also kein Problem, den Islam in Europa zu integrieren?

Wenn Sie sich fragen, „passt der Islam zu Europa?“, müssen Sie sich auch fragen, ob Sie die islamische Welt meinen, als eine Zivilisation, die im Begriff ist, zusammenzubrechen – oder den Islam als Lebensphilosophie. Es mag meine persönliche, progressive Sicht sein, wenn ich sage: Der Islam ist nicht da, um Gesetze zu machen. Er ist der Weg dahin, ein besserer Mensch zu werden. Deswegen heißt es auch Shari’a, Shari’a bedeutet Weg. Sie ist eine persönliche Reise, kein Gesetzbuch. Sofern Gesetze im Koran stehen, waren sie als Gegengewicht zu bereits bestehenden patriarchalen und Stammesgesetzen gedacht.

Wie viele Imame in Europa heißen queere Menschen in ihren Gemeinden willkommen?

Mehr und mehr, so viel kann ich sagen. Wir wissen um den Konflikt zwischen unserer gegenwärtigen Vorstellung von Islam und den Menschenrechten. Als europäische Imame wissen wir, dass wir uns entscheiden müssen zwischen einem progressiven Islam und dem Islam des „IS“. Mehr und mehr Imame wählen den progressiven Weg. Aber man darf auch nicht versuchen, schneller zu sein als die eigene Gemeinde. Sonst wird sie sich einen anderen, einen konservativen Imam suchen. Daher ist es auch unsere Pflicht, in einem Tempo voranzuschreiten, dem unsere Gemeinden folgen können.

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