Essay Brexit und Rechtspopulismus: Das Volk gegen die da oben

Dass die Briten den Schritt zum Austritt gegangen sind, hat viele Gründe. Für rechte Populisten ist das Anti-EU-Ressentiment ist ein gefundenes Fressen.

Karikierendes Gemälde mit Cameron und Boris Johnson

Einer ist schon jetzt eine Witzfigur Foto: dpa

„Daran habe ich immer geglaubt, dass man sich wichtigen Entscheidungen stellen muss und sich vor ihnen nicht wegducken darf“, sagte David Cameron Freitagmorgen, nachdem das Schockergebnis des Brexit-Referendums bekannt geworden war. Daran sah man schon, wie weit der britische Premier von der Realität entfernt ist. Cameron hat aus Parteitaktik ein Referendum ausgeschrieben, er und die Tories haben seit Jahrzehnten auf der billigen Klaviatur des Antieuropäertums gespielt – dann braucht man sich über das Ergebnis nicht zu wundern. Die Positionen der populistischen Rechten übernehmen und dann ein Pro-Votum empfehlen – das ist so absurd, dass man am liebsten laut auflachen möchte.

Leadership, das sich „wichtigen Entscheidungen stellt“, ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was dieser grandios gescheiterte Möchtegernstaatsmann repräsentiert. Wäre es nicht so tragisch, müsste man sagen: Dieser Mann ist als Premier eine Lachnummer, die nicht leicht zu überbieten ist. Er wird in die britische Geschichte als Witzfigur eingehen.

Dass die Briten den Schritt zum Europa-Exit tatsächlich gegangen sind, hat natürlich viele Gründe.

Da ist zunächst einmal das jahrzehntelange Antieuropäertum des rechten Tory-Flügels. Euroskepsis ist in Großbritannien nichts, was erst mit dem Aufkommen von Populismus und Wutbürgertum zu grassieren begann. Es gibt hier einen Traditionsstrang von „Britishness“, der Exklusivität hochhält. Der konnte freilich immer nur die britische Europapolitik bremsen – aber er war nie stark genug, die britische EU-Mitgliedschaft generell infrage zu stellen.

Dass es jetzt so weit kam, hängt mit zwei weiteren Faktoren zusammen, die – und das ist das Beunruhigende – nichts mit skurrilen Britenspleens zu tun haben.

Wutbürgertum

Erstens das, was man so generell das Wutbürgertum nennt (und das mit Bürgerlichkeit nur dem Namen nach zu tun hat): das Ressentiment gegen die politische Klasse und deren Elitenprojekte, der Zorn auf die Welt und Veränderungen, die ins Aggressive umschlagende Verängstigung, Xenophobie und Abwehr von Zuwanderung. All das verdichtet sich in einer Wut und dem Bestreben, es „denen da oben“ endlich einmal zu zeigen.

Und überall in Europa richtet sich diese Wut auf „Europa“, auf „Brüssel“, auf „die Eurokraten“ und deren „undemokratisches Regime“. Marine Le Pen, ­Geert Wilders, Heinz-Christian Strache und seine FPÖ, Ungarns Viktor Orbán und viele andere schaffen es spielend, diese Wut zu kapitalisieren.

All das ist eine amorphe, antipolitische Stimmung, die getragen wird von der Vorstellung in breiten Bevölkerungskreisen, dass die politischen Eliten in ihrer Arroganz „die einfachen Leute“ verachten, verkaufen, betrügen.

Diese Gemengelage grassiert überall in Europa, aber auch über Europa hinaus: Man denke beispielsweise nur an Donald Trump und andere Produkte dieses giftigen politischen Emotionscocktails.

Rhetorische Spiele

Die „einfachen Leute“ fühlen sich von der Etabliertenpolitik nicht mehr repräsentiert, und dieses Gefühl wird von den Populisten noch geschürt. Die Rhetorik der Etablierten wiederum unterstützt dieses Gefühl auch noch: Wann immer sie hilflos und gut gemeint beteuern, man müsse nun „rausgehen zu den Leuten“, dann senden sie die Botschaft, dass sie etwas anderes sind als „die Leute“, dass man von denen getrennt ist und dass es notwendig ist, auf paternalistisch-herablassende Art zu denen hinzugehen und ihnen die Welt zu erklären.

Neben der spezifisch britischen Emotionalität und der populistischen „Wir da unten gegen die da oben“-Mentalität gibt es aber noch einen dritten Grund, und der ist in gewissem Sinne der schlimmste, weil er fahrlässig selbst verschuldet ist und die Europäische Union zerstören kann, und der dafür verantwortlich ist, dass aus eurokritischen Minderheiten eine Mehrheit werden kann: die fatale Politik der Europäischen Union selbst.

Die Europäische Union wurde mehr und mehr zu einem neoliberalen Projekt, in dem „Marktfreiheit“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ die zentralen Glaubensartikel sind. In den vergangenen sechs Jahren kam dann noch eine flächendeckende Austeritätspolitik dazu, die vor allem in der Eurozone zu permanenter Stagnation und in den Krisennationen der Peripherie zu sozialen Katastrophen führte.

Das ist fatal, weil es das Bild der Europäischen Union in den Augen der Bürger einfärbte. Diese EU wird einfach nicht mehr mit Wohlstand, Fortschritt und wachsenden Chancen verbunden (wie das in den achtziger und bis weit in die neunziger Jahre der Fall war), sondern mit Wohlstandsverlusten, mehr ökonomischem Stress und Wettbewerb, bei dem die Bürger und Bürgerinnen unter die Räder kommen.

Bedrohung statt Versprechen

Europa ist kein Versprechen mehr – es ist eine Bedrohung.

Dafür sind die politischen und administrativen Eliten der Länder grosso modo selbst verantwortlich und besonders auch noch jene politische Strömung, die dem Kontinent seit Jahren ein „Ihr müssten den Gürtel enger schnallen“ verordnete.

Etwas salopp gesagt: Es sind Leute wie Wolfgang Schäuble und Co, die die Europäische Union an den Rand des Kollapses gebracht haben.

Tolle Leistung, danke schön dafür!

Ein Land prägt eine Religion. Wie Muslime in Deutschland leben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 25./26 Juni. Außerdem: Rebellion für die Selbstbestimmung. Von weiblicher Solidarität und Schubladendenken - das #TeamGinaLisa steht. Und: Die Briten haben über den Austritt aus der EU abgestimmt. Was kommt jetzt? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Diese Politik hat den Spaltpilz in dieses Europa gepflanzt, weil Krisen plötzlich nicht mehr im Geiste der Kooperation gelöst, sondern die Mitgliedstaaten gegeneinander aufgewiegelt wurden: Solider Norden gegen die Schlawiner im Süden, so wurde die Debatte etwa in der Finanz- und Eurokrise geframed.

Nicht nur ein Gegeneinander schlich sich ein, sondern ein Geist des autoritären Regierens. Nationale Regierungen, die nicht spuren wollten, wurden auf Linie gebracht wie etwa die griechische. Die Troika wurde zum Sinnbild dieses fatalen Kurses: bürokratische Eliten, die mit grenzenloser Überheblichkeit glauben, sie könnten Befehle erteilen.

Die bösen Geister, die diese Politik rief, wird sie nun selbst nicht mehr los.

War das Setting des Gegeneinanders in der Euro- und Finanzkrise noch eines, das im Wesentlichen an der Nord-Süd-Achse (und vor allem in der Eurozone) wirkte, so gingen die Fronten bei der nächsten Krise schon durcheinander: Ost gegen West, Peripherie gegen Zentrum, beinahe jeder gegen jeden.

Bild einer dysfunktionalen Union

Die Blockbildungen, wer sich mit wem verbündet und welche politischen Fragen wo auf fruchtbaren Boden fallen, die mögen teilweise variieren – aber das Gesamtbild einer dysfunktionalen Union, die für die Bürger und Bürgerinnen kaum mehr nennenswerte Vorteile bietet und deren zentrifugale Tendenzen ins Chao­ti­sche übergehen, setzte sich erfolgreich in den Köpfen fest. Von London bis Athen, von Wien bis Budapest.

Diese Europäische Union ist auch von ihren Freunden und Freundinnen kaum mehr zu verteidigen – und ist deshalb als Feindbild ein gefundenes Fressen für die Rechtspopulisten. Überall können sie die scheinbaren Interessen der „einfachen Leute“ gegen Europa in Stellung bringen.

Das zeigte sich insbesondere in England dramatisch. Die Labour-Party kämpfte nur halbherzig für ein „Remain“, ihrem linken Vorsitzenden Jeremy Corbyn fiel kaum ein Argument ein, das gegen den Brexit sprach. Viele Linke warben mit dem Argument für das „Remain“, ein Brexit würde unter den gegebenen Umständen nur den Rechten helfen. Ein „linker Exit“ wäre wünschenswert, aber der stünde nicht zur Wahl. Deshalb gab diese Linke die Parole aus: „Remain and revolt.“ Es versteht sich von selbst, dass derart um die Ecke gedachte Argumentationen in einer polarisierten Atmosphäre nicht gerade dazu beitragen, nennenswert gegen den rechten Populismus zu punkten.

Die Populisten in Europa werden jetzt einen Zahn zulegen und versuchen, einen Dominoeffekt zu produzieren. Noch haben sich viele der Rechtsparteien gescheut, den definitiven EU-Austritt zu fordern. Parteien wie etwa die FPÖ fordern eine solche Sezession bisher nicht offen. Aber es ist anzunehmen, dass sich das in den nächsten Monaten ändern wird. Zu verlockend ist die Aussicht, mit einer Anti-EU-Referendumsforderung die Regierungen unter Druck zu setzen und zu fordern, „das Volk“ solle entscheiden. Schon Freitag haben sich der Front National, Wilders Freiheitspartei und die FPÖ markant in diese Richtung bewegt.

Die Europäische Union ist jetzt an einen Wendepunkt. Wenn Merkel, Schäuble und Co glauben, man könnte so weitermachen, dann fliegt uns dieses Europa um die Ohren.

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