Reform des Sexualstrafrechts: Eine Frage des Timings

Katja Grieger feiert die Verabschiedung des Gesetzes. Sie hat die Debatte „Nein heißt nein“ mit angestoßen – und lange für diesen Moment gekämpft.

Eine Frau steht mit einer Armbinde mit der Aufschrift "Nein heißt Nein" vor dem Deutschen Bundestag

Während der Abstimmung geben auch draußen vor dem Bundestag Menschen dem „Nein“ ihr „Ja“ Foto: dpa

BERLIN taz | Hoch oben auf der Zuschauertribüne im Bundestag sitzt Katja Grieger. Die Chefin des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) in Berlin will live dabei sein, wenn das Parlament eine der größten Reformen des Sexualstrafrechts beschließt. Sie will erleben, wie sich eine große Mehrheit der VolksvertreterInnen zu einem kleinen Satz bekennt: „Nein heißt Nein“.

Auf diesen Moment hat Katja Grieger jahrelang hin gearbeitet. In diesem Moment ist es auch egal, dass viele Menschen im Land glauben, die massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen in der Kölner Silvesternacht und die „Vergewaltigungsprozesse“ um das Model Gina-Lisa Lohfink seien der Grund für das Zustandekommen der Reform.

Denn nur wenige wissen, dass die Frauenbewegung schon seit den 1980er Jahren für ein schärferes Sexualstrafrecht kämpft. Zuletzt ausführlich Mitte der 1990er Jahre. Damals erreichten sie, dass 1997 die Vergewaltigung in der Ehe endlich unter Strafe gestellt wurde. Die Ereignisse von Köln und die Causa Lohfink mögen die Stimmung dafür bereitet haben, dass Menschen, die die Ablehnung eines sexuellen Angebots ignorieren, künftig leichter verurteilt werden können. Aber ausgelöst haben sie sie nicht. Dafür haben andere gesorgt, hauptsächlich Frauen. Eine von ihnen ist Katja Grieger.

In der Bundestagsdebatte reden Abgeordnete der Koalition und der Opposition jetzt über sexuelle Gewalt, über Gewalt, Gruppendelikte und Angrapschen. Dass die jetzige Reform längst überfällig sei. Und dass es mehr Opferschutz brauche. Solche Sätze. Sätze, die auch Katja Grieger seit Jahren mantrahaft wiederholt.

Jede siebte Frau Opfer von Gewalt

Sie hört auch mehrfach ihren eigenen Namen: Vor allem ihr sei es zu verdanken, dass der Bundestag heute die Reform beschließt. Beim Wort „Paradigmenwechsel“ hält sie kurz die Luft an. Jetzt entfaltete der lange Atem, den etliche Frauen- und Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten entwickelt hatten, seine Wirkung.

Katja Grieger kann die Zahlen und Fakten zu sexueller Gewalt in Deutschland im Schlaf runterbeten: Jede siebte Frau in Deutschland erlebt einer Studie des Familienministeriums zufolge mindestens einmal in ihrem Leben sexuelle Gewalt. Jedes Jahr werden rund 8.000 Vergewaltigungen angezeigt. Die tatsächliche Zahl liegt höher, ExpertInnen gehen von einer Dunkelziffer zwischen 85 und 95 Prozent aus. Nur etwa 5 der angezeigten Täter werden verurteilt.

Wieso werden so wenig Vergewaltiger bestraft, fragte sich Grieger. Warum müssen sich die zum Teil schwer traumatisierten Opfer vor Gericht von RichterInnen Fragen stellen lassen, die sich anfühlen wie ein zweiter Übergriff?

Um diesen Missstand zu ändern, begann Grieger einen Kongress vorzubereiten, der im September 2010 unter dem Titel „Streitsache Sexualdelikte“ in Berlin stattfand. Der Kongress sollte das mangelhafte Sexualstrafrecht mit juristischen Sachargumenten geißeln. Grieger suchte eine Rechtswissenschaftlerin, die diese Rolle übernehmen wollte. Aber sie fand keine. Die Juristinnen erklärten unisono, dass der Vergewaltigungsparagraf derzeit nicht Gegenstand der juristischen Debatte sei.

Zur falschen Zeit

Dabei war Vergewaltigung zu jener Zeit ein großes Thema. Der Wettermoderator Jörg Kachelmann stand vor Gericht, weil er eine seiner Geliebten angeblich vergewaltigt hatte.

Katja Grieger beschloss, die sogenannten Schutzlücken im Sexualstrafrecht selber anzugehen. Und sagte in ihrer Einführungsrede auf dem Kongress: „Ein Nein wird als Widerstand nicht anerkannt.“ Der Satz verhallte ungehört. Falscher Zeitpunkt.

Deutschland hatte die Instanbul-Konvention unterzeichnet und war dadurch verpflichtet, das deutsche Sexualstrafrecht nachzubessern.

Doch das Blatt wendete sich schneller, als die bff-Chefin damals ahnte. Am 11. Mai 2011 beschloss der Europarat das „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, die sogenannte Istanbul-Konvention.

Grieger wusste, dass die Chance für die Reform gekommen war. Aus einem schlichtem Grund: Der deutsche Vergewaltigungsparagraf 177 widersprach den Europarats-Vorgaben. Die besagen, dass für sexuelle Handlungen ein „Einverständnis“ vorliegen muss. Oder anders ausgedrückt: Ja heißt Ja und Nein heißt Nein.

Nur mit Einverständnis

Deutschland hatte die Instanbul-Konvention unterzeichnet und war dadurch verpflichtet, das deutsche Sexualstrafrecht nachzubessern. Hastig durchforsteten Juristinnen das Gesetz nach den Schutzlücken. Grieger und ihre Kolleginnen sammelten Vergewaltigungsfälle, bei denen das Verfahren aufgrund der Rechtslage eingestellt oder der Täter freigesprochen wurde.

Im Sommer 2014 veröffentlichten sie die Analyse mit über 100 solcher Fälle. Sie legten Justizminister Heiko Maas (SPD) die Sammlung vor und forderten ihn auf, dafür zu sorgen, dass „jede sexuelle Handlung gegen das Einverständnis der Betroffenen“ bestraft wird.

In Irland liegt eine Vergewaltigung vor, wenn ein Mann mit einer Frau Verkehr hat, obwohl sie damit nicht einverstanden ist. Das gilt auch bei fehlendem aktiven Widerstand.

In Schweden ist Nötigung Voraussetzung für eine Vergewaltigung. Diese umfasst etwa auch Einschüchterung.

In Indien gilt jeder Akt der Penetration als Vergewaltigung, der gegen den Willen der Frau geschieht. In der Ehe ist er jedoch kein Straftatbestand. Vergewaltigung ist in Indien die vierthäufigste Straftat gegen Frauen.

In den USA gilt als Vergewaltigung jede Penetration, die gegen den Willen des Opfers geschieht. Allerdings hat jeder Bundesstaat ein eigenes Gesetz. In Kalifornien gilt seit 2014 „Yes means Yes“ für Studierende an staatlichen Universitäten. (dir)

Nun ging es Schlag auf Schlag. Andere Frauen- und Menschenrechtsorganisationen holten ihre Studien und politischen Forderungen aus den Schubladen, die dort schön länger auf den „richtigen Moment“ warteten. Im Mai 2014 forderte der Deutsche Juristinnenbund, das Sexualstrafrecht zu modernisieren. Im Januar 2015 legte das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) in Berlin ein juristisches Gutachten für eine Reform des Sexualstrafrechts vor und lieferte einen Formulierungsvorschlag mit: „Nein heißt Nein“.

Jetzt war die öffentliche Debatte vollends entfacht. Der Justizminister musste reagieren und setzte im Februar 2015 eine Kommission ein, die das Sexualstrafrecht grundsätzlich überarbeiten sollte. Im Juli 2015 präsentierte er einen Gesetzentwurf, der die sexuelle Selbstbestimmung besser schützen sollte. Mit einer Überraschung: Die Formulierung „Nein heißt Nein“ stand nicht drin.

Kampf um das Gesetz

Katja Grieger war überrascht. Und fürchtete, dass die Chance auf die Strafrechtsreform für Jahrzehnte vertan wäre, wenn das Gesetz in dieser laschen Form verabschiedet würde. Dann müssten Opfer weiterhin die zum Teil erniedrigende Gerichtsverfahren über sich ergehen lassen. Dann wäre ein Nein, das nicht ausgesprochen oder durch Weinen verdeutlicht wird, kein „echtes Nein“. Dann kämen manche Täter, wie jene auf der Kölner Domplatte, nach wie vor davon.

So sahen das auch andere Expertinnen, sie bildeten rasch ein Bündnis. Darunter das Deutsche Institut für Menschenrechte, der Deutsche Frauenrat, Terre des Femmes, Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen. Die Frauen schrieben Briefe ans Justizministerium, sie trafen sich mit Bundestagsabgeordneten. Sie argumentierten, erklärten, forderten. Sie veröffentlichten einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Bundestagsabgeordnete wie Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU, solidarisierten sich. „Der Grundsatz ‚Nein heißt Nein‘ verträgt keine Einschränkung“, sagte die rechtspolitische Sprecherin der Unions-Fraktion. SPD-Frauen wie Eva Högl, Vizechefin ihrer Fraktion im Bundestag, standen ohnehin auf der Bündnis-Seite. Ebenso die Grünen und die Linkspartei.

Nicht mehr „wie“ sondern „wann“

Am 28. April verhandelte der Bundestag zum ersten Mal über den Gesetzentwurf von Heiko Maas. Die Kritik daran war so massiv, dass klar war: Das Papier muss nachgebessert werden. Für Katja Grieger war das der Durchbruch.

Als sich drei Tage später auch noch die Fraktionschefs von Union und SPD, Volker Kauder und Thomas Oppermann, für den „Nein heißt Nein“-Passus aussprachen, hieß es nicht mehr: Wie soll das Gesetz aussehen? Sondern nur noch: Wann wird es endlich beschlossen?

Die Abgeordneten Högl und Winkelmeier-Becker erkannten die „gute Stimmung“ und steuerten die letzte Woche vor der parlamentarischen Sommerpause an. Den heutigen Donnerstag. Ein historischer Moment.

Gegen Mittag, nach dem Bundestagsbeschluss, eilt Katja Grieger ins Büro. Für einen letzten Akt: Presseanfragen, Statements, O-Töne. Den Sekt, den ihre Kolleginnen morgens im Kühlschrank deponiert hatten, wird sie später trinken.

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