Viele Inobhutnahmen in Hamburg: Behörde soll Jugendamtsfälle sichten

Die Hamburger Linke fordert die Überprüfung aller Fälle, bei denen Kinder alleinerziehender Mütter in Heimen untergebracht sind.

Darf, anders als andere, seine Eltern sehen: Kind Foto: imago/Westend61

HAMBURG taz | Der Fall von Linos* und Helene* beschäftigt in Hamburg die Politik. „Ich darf meine Mama nicht mehr sehen, warum ist das so?“, hatte der Junge im Juni unter Tränen seine Anwältin gefragt. Zwei Jahre lebt der heute 13-Jährige gegen seien Willen im Heim und darf keinen Kontakt zu seiner Mutter Helene haben, die ihn, bis er zehn war, allein großzog. „Das Schicksal dieses Jungen ist kein Einzelfall“, sagt Sabine Boeddinghaus von der Hamburger Linksfraktion. „Der Fall steht exemplarisch für viele Kinder und Jugendliche, die aus Familien genommen werden, ohne dass ihr Wille berücksichtigt wird.“

Die Familienpolitikerin fordert nun ein „Moratorium“, sprich eine Aussetzung und Neubewertung, für Entscheidungen der Hamburger Jugendämter. Konkret soll Hamburgs Sozialbehörde all jene Fälle überprüfen, bei denen Kinder alleinerziehender Mütter fremd untergebracht sind, etwa darauf, ob es Kontaktsperren gibt oder der Kindeswille ignoriert wird. Denn es gibt Hinweise, dass diese Gruppe durch Jugendämter diskriminiert wird. Die Stadt hat, angeblich wegen Immobilienknappheit, rund 1.500 Kinder im Alter von null bis 18 Jahren in anderen Bundesländern untergebracht. Bei jedem Fünften ist der Eltern-Kontakt eingeschränkt.

Dass das Schicksal von Mutter und Sohn kein Einzelfall ist, sagte auch der frühere Jugendhilfe-Abteilungsleiter Wolfgang Hammer im taz-Interview. Ihm seien aus jüngerer Zeit 14 Fälle bekannt, bei denen Kinder in Heime kamen, ohne dass es eine „substantielle Kindeswohlgefährdung“ gab. Betroffen seien alleinerziehende Mütter. Die Begründungen der Jugendamtsmitarbeiter wie „zu große Nähe zum Kind“ entsprächen eher der Haltung: „Ich bin jetzt der Ober-Erzieher und beurteile, wie gut die Erziehung in Familien ist.“ Doch gewisse Unzulänglichkeiten gebe es in jeder Familie. Selbst wenn diese oft auf Laien-Theorien basierenden Diagnosen stimmen würden, wären sie „kein Grund, ein Kind aus der Familie zu nehmen“.

Auch der Kriminologe Birger Antholz führt in dem Aufsatz „Kindesinobhutnahmen 1995–2015“, publiziert in der Zeitschrift Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ), auf, dass häufig Alleinerziehenden ein Kind weggenommen wird. 2014 bei 48 Prozent der neuen Fremdunterbringungen, obwohl nur 20 Prozent alleinerziehend sind. „Eltern-Opfer sind häufig zurückhaltende alleinerziehende Mütter, die verteidigungsschwach sind“, schreibt Antholz. Einige Mütter reagierten auf den Schock mit einer Erkrankung, die dann „endgültig die Kindeswegnahme rechtfertigen“.

Familienanwalt Rudolf von Bracken erklärt das Jugendamtsvorgehen bei streitenden Eltern so: „Der Elternteil, der kooperiert, der kriegt beim Jugendamt den Vorrang. Das ist oft der Vater, während die Mutter um das Kind kämpft.“ Häufig kämen Informationen ans Jugendamt von Dritten, die den Betroffenen nicht offengelegt werden. „Sie haben keine Gelegenheit, sich zu verteidigen“, so der Anwalt, der Helene vertritt.

Ein Anlass sei Mobbing in der Schule. „Traut sich ein Kind nicht mehr hin, meldet die Schule das als Absentismus ans Jugendamt.“ Die Kinder würden dann aus Familien genommen, weil dies als Kindeswohlgefährdung gilt. „In dem Kinderschutzhäusern kommt das Kind dann in eine schwierige Situation unter Gleichaltrigen.“ Auch dort kann es Mobbing geben.

Eine Überprüfung ganzer Fallgruppen durch die Behörde gab es schon. Zum Beispiel wurden 2012, nachdem ein elfjähriges Pflegekind durch eine Methadontablette starb, die Akten der rund 1.400 Pflegeeltern durchflöht. Auch von den auswärts lebenden Heimkindern weiß die Fachbehörde fast nichts, wie Boeddinghaus durch eine Parlamentsanfrage erfuhr: „Auswärtige Heime sind eine Black Box.“

Birger Antholz, Kriminologe

„Eltern-Opfer sind häufig zurückhaltende alleinerziehende Mütter“

Doch Anlass zur geforderten Aktenkontrolle sieht SPD-Sozialsenatorin Melanie Leonhard nicht. Im Rahmen der Fachaufsicht gehe man jedem „Hinweis zu Missständen im Einzelfall nach“, sagt ihr Sprecher Marcel Schweitzer. „Dies haben wir auch in diesem Fall umgehend veranlasst.“ Immerhin, doch darüber hinaus habe die Behörde keine Hinweise, die so eine Überprüfung notwendig machten. Und Gerichts-Entscheidungen zu Besuchskontakten, so Schweitzer, fielen nicht in ihre Zuständigkeit.

Gleichwohl hat aber Linos Jugendamt, das Leonhards Fachaufsicht untersteht, die Kontaktsperre in die Wege geleitet. Man müsse dem Kind so ein „Ankommen“ im Heim ermöglichen. Von Bracken hält Kontaktsperren mit diesem Argument für verfassungswidrig. „Selbst ein Häftling hat mehr Rechte als die Kinder.“

Sorgen, dass in der Jugendhilfe etwas gründlich schiefläuft, hat auch Marcus Weinberg. Er ist familienpolitischer Sprecher der CDU im Bundestag. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich an die 300 Zuschriften von Eltern, die sich von Jugendämtern alleingelassen und schikaniert fühlen. „Es gibt staatliche Entscheidungen, die mich zweifeln lassen, ob sie wirklich den betroffenen Kindern, ihren Eltern oder Pflegeeltern dienen“, sagt er.

Auch sei schlimm für die Eltern, dass sie nicht mehr an Informationen über ihre Kinder kommen. Weinberg will eine Kommission bilden, an die sich Eltern wenden können. Die müsste aber „wirklich unabhängig sein“.

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