„Jahresring 64“ von Wolfgang Tillmans: Bescheiden und neugierig

Der Gastherausgeber des Jahrbuchs des Kulturkreises der deutschen Industrie, Wolfgang Tillmans, agiert als Künstler und politischer Publizist.

eine Seite aus dem besprochenen Band - hauptsächlich mit Aufnahmen von Augen

Wolfgang Tillmans, „Jahresring 64“, Seite 180/181 (Ausschnitt) Foto: Abbildung aus dem besprochenen Band

Was ist anders?“, fragt Wolfgang Tillmans in dem vom ihm konzipierten „Jahresring 64“. Mit seiner Herausgeberschaft tritt er in gewisser Weise für den Kulturkreis des Bundesverbands der Deutschen Industrie die Nachfolge von Jürgen Habermas und seinen Stichworten zur „Geistigen Situation der Zeit“ an. Damit machte der Frankfurter Philosoph 1979 den Band 1.000 der edition suhrkamp zum Debattenforum. Das Vorbild war Karl Jaspers und seine Schrift „Die geistige Situation der Zeit“, 1931 der tausendste Band der „Sammlung Görschen“.

Gleich geblieben über lange Zeit ist also ein Bedürfnis, sich über eine problematische Gegenwart zu verständigen, was 1931 und 2017 dringlicher scheint als im Jahr 1979, in dem Jürgen Habermas freilich schon den Zerfall und die Zersplitterung der Linken und das Wiedererstarken eines konservativen Denkens beklagte. Mochte ihm der Normalfall, dass es politische Gegner gibt, noch als Rückfall in „eine andere Republik“ erscheinen, sind wir heute in einer schon durch den Mauerfall 1989 wirklich ganz anderen Republik mit Akteuren des Rechtspopulismus konfrontiert, die nun mit Carl Schmitts Freund-Feind-Konzept operieren.

Wäre also nur das konservative Denken erstarkt, hätte Wolfgang Tillmans wohl kaum die Notwendigkeit verspürt, sein fotografisches, künstlerisches Anliegen um dezidiert politische Publizistik zu erweitern. Das nämlich ist anders, „dass viele Probleme unserer Zeit aus absoluten Wahrheits-Claims resultieren“, wie er in der Einleitung des „Jahresring 64“ schreibt. Als berühmtestes Beispiel dieser Wahrheits-Claims kann die Behauptung der Bush-Regierung gelten, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen.

Diese und ähnlich falsche Behauptungen etwa zum HI-Virus waren Anlass zu der von Tillmans bis heute fortgeführten Werkreihe „truth study centre“. Eine erste, 2005 in London präsentierte Installation zeigte einfache Tische voll mit Fotokopien von politischer und religiöser Desinformation, konterkariert durch Ausdrucke politischer Analysen und Zeitungsberichte über wissenschaftliche Missionen und Experimente.

Wolfgang Tillmans/Brigitte Oetker (Hrsg.): „Jahresring 64“, Sternberg Press, Berlin 2017, 228 Seiten, 25 Euro.

Das Jahrbuch ist ein Kunstprojekt

Und deshalb ist auch das anders als bei den Habermas’schen Stichworten: „Der Jahresring 64“, dessen Themen der Rechtspopulismus, vor allem aber Fake News und die Beobachtung sind, dass breite Teile der Bevölkerung gut belegten Fakten nicht mehr trauen, ist die bislang letzte Emanation des „truth study centre“. Er ist also ein Kunstprojekt. Und statt der üblichen Verdächtigen, der Philosophen und Soziologen, ergreift ein Vertreter der Sub- und Popkultur, ein Künstler, das Wort.

Er wendet sich an internationale Wissenschaftler wie Kognitionspsychologen, Neurowissenschaftler und Physiker, an Journalisten und Autoren, aber auch an deutsche Politiker wie Wolfgang Schäuble und Sigmar Gabriel. Wen er allerdings nicht fragt – und er wird seine Gründe haben –, sind Ökonomen. Das fällt auf, immerhin ist die 1951 gegründete Jahresschrift eine der traditionsreichsten Schnittstellen zwischen Wirtschaft und Kultur in Deutschland.

Moralische Urteilsbildung ist weit weniger rational, als wir uns das vorstellen

Ausgangspunkt von Wolfgang Tillmans Überlegungen und Fragen ist der sogenannte Backfire-Effekt, der erstmals 2006 von den US-Politologen Brendan Nyhan und Jason Reifler untersucht und beschrieben wurde. Es handelt sich dabei um eine psychologische Reaktion, mit der sich die ungebrochene Attraktivität von Fake News und Verschwörungstheorien insoweit erklären lässt, als festgestellt werden muss, dass Menschen, sind sie erst einmal von einer Aussage − so falsch sie auch sein mag − überzeugt, durch Fakten und Beweise, die sie widerlegen, nicht umgestimmt, sondern im Gegenteil bestärkt werden.

Warum aber fällt uns dieses Phänomen erst im 21. Jahrhundert auf? Warum finden die rassistischen, antisemitischen, homophoben, nationalistischen Einstellungen eines Teils der Gesellschaft erst jetzt ihre Vertretung im Parlament, wo es doch seit der Nachkriegszeit immer einen relevanten Prozentsatz von rechtsextremen Wählern gab? Was hat sich da geändert?

Sarrazin bedeutete den Dammbruch

Bianca Klose, die Gründerin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), sagt, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien hätten immer ein Personalproblem gehabt, die sogenannten sozialen Eliten hätten sich da ferngehalten. Das habe sich mit Thilo Sarrazin und seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ geändert.

Teile der bürgerlichen Mitte, Akademiker, Selbstständige, Staatsangestellte aus Polizei, Justiz und Militär formierten sich seitdem in rechten Bewegungen wie Identitäre und Pegida und Parteien wie der AfD. „Vor allem an den Unis, unter Journalist*innen und Intellektuellen wagen sich viele aus der Deckung oder sehen gar eine Karrieremöglichkeit für sich.“

Und gerade für sie gilt, was der Philosoph Philipp Hübl über Lagerbildung und den neuen Populismus feststellt: „Zuerst die Ideologie, dann die Fakten.“ Hübl forscht − indem er neurowissenschaftliche Untersuchungen miteinbezieht – über unsere moralische Urteilsbildung, die sehr viel weniger ra­tio­nal vonstatten geht, als wir uns das gerne vorstellen.

Dass Personen, die sich selbst gerne als progressiv und offen einschätzen, ihr Urteil − anders als das Konservative tun − eher überdächten, wie Hübl meint, widerlegt allerdings in anderem Kontext die aktuelle Recherche, die der Journalist Jörg Metes am 17. Dezember bei den Ruhrbaronen ins Netz gestellt hat.

Zuerst die Ideologie, dann die Fakten

Es geht um das bewusst verfälscht in die Welt gesetzte Zitat von Necla Kelek, Muslime hätten eine Neigung zur Sodomie. Ohne seine Stichhaltigkeit je zu überprüfen, empörten sich Journalisten, Wissenschaftler und Politiker wie Jakob Augstein, Daniel Bax, Wolfgang Benz, Christoph Wagenseil und Cem Özdemir im großen Stil über die Sprecherin. Es passte eben so schön in ihr Bild von der islamophoben Rechtsanwältin: „Zuerst die Ideologie, dann die Fakten.“

Pikant: Wolfgang Benz nennt für das Zitat eine Quelle, die er nicht benutzt haben kann, weil er das Zitat mit einer weiteren Falschinformation ergänzt, die dort nicht zu finden ist – wohl aber bei Wikipedia. Zu Recht betonen sämtliche Beiträge im „Jahresring 64“ die entscheidende Rolle von Informationsquellen und Medien. Selbst dort, wo sie wie Brendan Nyhan anhand des von ihm erforschten Backfire-Effekts zu dem wenig erfreulichen Schluss gelangen, dass Information sich keineswegs so wirksam in unserer Meinungsbildung niederschlägt wie bislang angenommen.

Wie der Kognitionspsychologe Stephan Lewandowsky, der wie Hübl ein spezifisches kognitives Muster bei Rechtsextremen erkennt, im Interview mit Tillmans erklärt, findet er in diesem Zusammenhang das Internet nicht so sehr als Medium von Fake News relevant. Wichtiger sei, dass das Internet unseren Hang zum Tribalismus bestärke. Denn im virtuellen Raum findet jeder Vertreter von noch so bizarren und abstrusen Thesen Gleichgesinnte. Man ist immer Mitglied einer Wissensgemeinde und als solches kaum geneigt, eigene Thesen zu überdenken, gar zu revidieren.

Diese Problematik wird vom Kulturwissenschaftler Michael Seemann unter dem Titel „Digitaler Tribalismus und Fake News“ höchst informativ weiter ausdifferenziert. Tatsächlich liegt der große Gewinn des „Jahresring 64“ darin, dass seine Beiträge samt den Bilderstrecken mit den Text- und Statistikexzerpten als fortlaufender Text zu lesen sind, wobei die vielen neuen, oft befremdlichen Aspekte zum Thema Meinungsbildung stets unter einer neuen Perspektive verhandelt werden. Und am Ende ist der Rat von Brendan Nyhan im Hinblick auf das eigene individuelle Verhalten und Urteilen, nämlich bescheiden zu bleiben und neugierig, keineswegs banal, sondern ausgesprochen glücklich.

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