Fußball-WM in Nischni Nowgorod: Mülltrennung an der Wolga

Nischni Nowgorod wurde für die Fußball-WM herausgeputzt, nun findet das letzte Spiel dort statt. Die Stadt bietet mehr als Fußball.

Kolum­bianischer Fußballfan auf Erkundungstour in Nischni Nowgorod

Die Stadtregierung habe viel Geld vor der WM in Nischni Nowgorod investiert Foto: Ricardo Mazalan/ap

NISCHNI NOWGOROD taz | Die dicken Kreml-Mauern von Nischni Nowgorod schlucken den Lärm, der vor der Festung tost, einfach weg. Hier im Kreml-Konzertsaal ist nichts zu hören vom Fifa-Fest, den Marktschreiern am Mikrofon und den verrückten feierlustigen Fans, die aus aller Welt in diese Stadt pilgern und von der die meisten zuvor wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben.

Das Gedränge ist unterdessen auch unter den Musikliebhabern gewaltig. Alle 1.500 Plätze sind besetzt, die Nachkommenden nehmen auf den Treppen Platz. Das städtische philharmonische Orchester beginnt sein Programm mit einem Stück von Louis Spohr.

Nischni Nowgorod hat in diesen Tagen weit mehr als dieses Fußballturnier zu bieten. Das will Alina Aliazgarova mir gern zeigen. Die fast fertig ausgebildete Medizinerin, die als Assistentin für den Vize-Rektor ihrer Universität arbeitet, hat dafür extra von ihrem Chef frei bekommen. Wobei die schlanke und energiegeladene Frau immer noch diverse Dinge nebenbei über ihr Telefon regeln muss. „Ich muss immer etwas machen“, sagt die 29-Jährige lachend. Sie bekennt sich zu ihrer Arbeitssucht.

Aufgrund ihres Engagements in der Städtepartnerschaft mit Essen wurde mir ihre Adresse vermittelt. Man kann sich kaum eine leidenschaftlichere Schwärmerin von Nischni Nowgorod vorstellen. Bei der Erörterung der positiven und negativen Seiten dieser Stadt wird schnell klar: Das Schlechte war früher, das Gute ist heute.

Jede Menge los in Nischni Nowgorod

Im Geburtsjahr von Aliazgarova, 1989, als das kommunistische System kollabierte, herrschte größte Not. Ihre Eltern hätten Angst vor ihrem Aufwachen gehabt, weil sie nichts zu essen hatten, und an ein zweites Kind wagten sie nicht zu denken. „Sehr, sehr viel“, betont die junge Aktivistin, „hat sich seither getan.“ Sie selbst ist gerade im dritten Monat schwanger und möchte auf keinen Fall, dass ihr Kind ebenfalls ein Einzelkind sein wird.

Auf dem Weg zur Philharmonie hat sie mir beim Regierungsgebäude der Stadt mit Stolz erzählt, sie sei im Besitz eines Hausausweises. Wenn es Probleme gäbe, könne sie immer hierher kommen. Man habe stets ein offenes Ohr für sie. Seit fünf Jahren, erzählt sie, gehöre sie der Molodaja Gwardija an. Es ist die Jugendorganisation der putintreuen Partei „Einiges Russland“. Ein vornehmlich akademisch geprägter Nachwuchskader.

Von dem Konzert im Kreml-Konzertsaal ist Aliazgarova sehr angetan. Es ist eines von vielen Gratiskonzerten eines zweimonatigen Festivals, das jährlich in Nischni Nowgorod stattfindet. „Das ist eine mittlerweile 62 Jahre alte Tradition, die aus der Zeit der Sowjetunion stammt“, erklärt Aliazgavora, „Viele Touristen kommen deshalb hierher. So viele kostenlose Konzerte, wo gibt es das sonst?“

Aber auch so, versichert sie, sei hier jede Menge los. Die 800-Jahr-Feier der Stadt, die 2021 stattfinden wird, werfe ihre Schatten voraus. Und dieses Jahr wird mit zahlreichen Veranstaltungen an den 150. Geburtstag von Maxim Gorki, dem berühmtesten Sprössling dieses Orts, gedacht.

Nach dem Schriftsteller war Nischni Nowgorod noch vor dem Zusammenfall des kommunistischen Systems benannt. Weil sie geschlossen war, durften Ausländer die Stadt damals nicht besuchen. Die dort ansässige atomare Rüstungsindustrie sollte geschützt werden. Mit dieser Regelung eignete sich die Stadt zudem als Verbannungsort für den Regimekritiker und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow zwischen 1980 und 1986.

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Von der damaligen Geschlossenheit könne keine Rede mehr sein, meint Aliazgarova. Die Stadt sei international. An ihrer Universität gebe es mit gut 3.000 Studenten mehr Ausländer als Russen. Vor allem in Asien sei das Interesse an einem Studium in Nischni Nowgorod sehr groß, in Malaysia zum Beispiel.

Idyllisch gelegen, breitet sich der Kern der fünftgrößten Stadt Russlands auf einem Hügel vor der breiten Wolga aus, die ein wenig weiter entfernt, in Sichtweite, mit der Oka, einem anderen bedeutsamen Fluss, zusammentrifft. „Das ist ein tolles Naturschauspiel“, stellt Aliazgarova vom Kreml hinunterblickend fest, „wie diese unterschiedlich farbigen Gewässer zusammenkommen. Das gibt es sonst vielleicht nur noch in St. Petersburg.

Kein Wissen über unterdrückte Opposition

Die Stadt hat sich mit vielen frisch renovierten Häusern herausgeputzt für die Besucher dieser Weltmeisterschaft. Architektonisch beeindruckende Gebäude gibt es zu bestaunen. Das Gebäude der russischen Staatsbank etwa in der Bolschaja Pokrowskaja, der Hauptstraße der Fußgängerzone. Das Jugendstilgebäude mit seinen mächtigen Türmen gleicht einem prächtigen Schloss.

Sehr viel Geld habe die Stadtregierung vor dieser Fußball-WM in die Verschönerung von Nischni Nowgorod investiert, berichtet Alina Aliazgarova. Auch dem Projekt, dem sie sich verschrieben hat, als die russische Regierung das Jahr 2017 zum Jahr der Ökologie ausrief, hat davon profitiert. Seit wenigen Monaten wird der Müll bei den öffentlichen Abfallbehältnissen getrennt. Es gibt in der Stadt immer jeweils einen grünen und einen gelben Mülleimer. Wieder ein positiver Unterschied zu früher, wie Aliazgarova bemerkt.

Einst regierte in Nischni Nowgorod Boris Nemzow als Gouverneur, der sich später in Moskau als politischer Gegner von Wladimir Putin einen Namen machte und im Zentrum der Hauptstadt im Februar 2015 erschossen wurde.

Von einer unterdrückten Opposition im Land will aber Aliazgarova nichts wissen: „Das sagen vielleicht Leute, die einen anderen Präsidenten haben möchten, aber Putin hat mehr als 76 Prozent Zustimmung bei der letzten Wahl bekommen.“ Dass das eine womöglich mit dem anderen zu tun hat, zumal die TV-Berichterstattung von Putin kontrolliert wird, auch das will Aliazgarova so nicht sehen. Sie sagt: „Ich schaue kein Fernsehen, ich habe keine Zeit dazu, ansonsten könnte ich gar nicht aktiv sein.“

Alina Aliazgarova ist allein dem Fortschritt zugewandt. An Rückschritte glaubt sie nicht. Über die weitere Nutzung der neuen Prachtarena an der Wolga, die knapp 45.000 Zuschauer fasst, macht sich die Politaktivistin keine Sorgen, auch wenn der dort künftig beheimatete Zweitligist Olympiets Nischni Nowgorod vergangene Saison gerade einmal 5.000 Zuschauer im Schnitt zu Besuch hatte. Mit einem siegesgewissen Lächeln sagt sie: „Es gibt noch viele andere große Sportarten und Russland ist sehr, sehr groß.“

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