Polizeiwissenschaftler über G20-Proteste: „Linke zu Chaoten abgestempelt“

Ein Jahr nach dem G20-Gipfel sieht die Polizei alle Schuld an der Gewalt bei den DemonstrantInnen. Rafael Behr über Heldengeschichten und pauschale Abwertungen.

Menschen sitzten vor Polizisten, die in voller Montur sind

Bürgerschutz sieht anders aus: Polizei und Demonstrierende in Hamburg, Juli 2017 Foto: Miguel Ferraz

taz: Herr Behr, als Dozent an der Hamburger Polizeiakademie haben Sie eine Innensicht: Wie bewertet die Polizei den G20-Gipfel ein Jahr danach?

Rafael Behr: Das Bild, das mir Polizisten von den Tagen des G20-Gipfels zeichnen, setzt sich von dem der Einwohner des Schanzenviertels deutlich ab. Ich höre durchaus viele Heldengeschichten. Es gibt eine große Selbstbestätigung, wenig Reflexion und noch weniger praktizierte Fehlerkultur. Das ist wie eine eigene polizeiliche Parallelwelt. Ein Narrativ unter Polizisten ist: Es hätte alles viel schlimmer kommen können.

Wie viel schlimmer hätte der G20-Gipfel in Hamburg verlaufen können?

In der Polizei herrschte durchaus eine große Angst davor, dass zum Beispiel jemand auf das Auto von US-Präsident Donald Trump springt und der Secret Service ein Blutbad anrichtet. Und auch vor Attentätern fürchtete man sich. Es wurde massenhaft Stacheldraht verlegt und die Spezialeinsatzkommandos in Stellung gebracht. Aber letztendlich weiß auch die Polizei, dass sie wenig hätte ausrichten können gegen jemanden, der mit einem Kleinbus in eine Menge fährt oder Leute mit einem Messer attackiert.

Welche Auswirkungen hatte der Gipfel auf das Verhältnis zwischen Polizei und Bürgern?

Aus Sicht der Stadtgesellschaft war es eine Katastrophe. Das Vertrauen, dass die Polizei mit ihren 31.000 Leuten für die Sicherheit der EinwohnerInnen Hamburgs hätte sorgen können, ist nachhaltig erschüttert worden. Was sich beim G20-Gipfel abgespielt hat, war ein Dilemma: Den Bürgern wurde vorher gesagt, sie müssten erdulden, dass es einen Gipfel gibt und es für die Demokratie wichtig sei, diesen in einer Stadt stattfinden lassen zu können. Das war der Anspruch.

Was passierte stattdessen?

Die Stadtgesellschaft wurde ausgegrenzt und exkludiert, etwa durch die fast 38 Qua­dratkilometer große Sperrzone, in der keine Demonstrationen stattfinden sollten. Das Prinzip eines Gipfels inmitten einer demokratischen Stadtgesellschaft wurde ad absurdum geführt. Der Rechtsstaat wurde dabei zum Fetisch.

60, Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei Hamburg.

Wieso Fetisch?

Der Begriff des „Rechtsstaats“ heißt ja nicht, dass der Staat immer Recht hat, sondern dass man als Bürger auch Rechte gegen den Staat hat. Schon im Zuge der Vorbereitungen auf den G20-Gipfel aber wurden aus den Bürgern nach und nach wieder die klassischen Herrschaftsunterworfenen. Die Polizei verabschiedete sich von ihrem Selbstverständnis als Bürgerschutzpolizei und wurde zur Staatsschutzpolizei, mit martialischem Law-and-Order-Anspruch.

Was wäre der Anspruch einer Bürgerschutzpolizei?

Die „Bürgerschutzpolizei“ war eine seit den 1990er-Jahren vorangetriebene Idee von der Polizei als Dienstleistungsorganisation – mit der Zivilgesellschaft als Kunde. Tatsächlich wollte man mit „den Bürgern auf Augenhöhe“ kommunizieren – aber eben nur mit „anständigen Bürgern“.

Das klingt mehr nach Wunsch als nach Wirklichkeit.

Der Bürgerschutzgedanke war immer eine Ideologie, aber hat soweit gewirkt, dass die Vorstellung von Dominanz und Stärke, die an der Basis gepflegt wurde, sich nicht so großen Raum verschaffen konnte. Inzwischen heißt es wieder, die Polizei müsse robuster werden.

Ab wann wurden die Zeiten stürmischer?

Das begann in Europa spätestens mit dem Näherrücken des IS-Terrorismus, nach den Anschlägen von Paris. Seitdem hat sich auch die Polizei militarisiert, Langwaffen – also Kriegswaffen – wurden angeschafft, um ebenbürtig zu sein. Heute sind Attentäter aber mit Alltagsgegenständen bewaffnet. Diese Asymmetrie zeigt, wie leicht es gelingt, den Staat aus der Ruhe zu bringen und sein Versprechen zu brechen, für die Bürger da zu sein. Der Bürger spielt nur eine Rolle, wenn er folgsam ist, aber nicht als Subjekt eigenständiger Interessen. Das hat sich auch beim G20-Gipfel bemerkbar gemacht. Das erinnert mich an den Schahbesuch 1967, dem Auslöser der Studentenrevolte. Auch da hat die Polizei dafür gesorgt, dass der Schah von Persien in Ruhe seine Oper hören kann und die Demonstranten nicht stören.

Sie spielen auf das Bild der G20-Regierungschefs in der Elbphilharmonie an, während draußen Barrikaden brannten?

Das Problem ging ja im Vorfeld schon los. Je näher der G20-Gipfel rückte, desto mehr hatte die Stadtgesellschaft das Gefühl, nur noch eine Nebenrolle zu spielen. Man war kein Einwohner oder „Kunde“ mehr, sondern musste sich immer neuen Kontrollmaßnahmen fügen. Die Bürger haben gemerkt, dass es gar nicht um ihren Schutz geht, sondern vor allem um einen reibungslosen Gipfelverlauf. Daher die Wahrnehmung, dass die Polizei in Hamburg zeitweise wie eine Besatzungsmacht aufgetreten ist.

Andererseits hatten viele BürgerInnen das Gefühl, allein gelassen worden zu sein, vor allem mit der Randale am 7. Juli.

Hier hat die Martialität des polizeilichen Auftritts eben nichts genutzt. Ich würde aber Verschwörungstheorien um diesen Abend deutlich zurückweisen. Etwa, dass die Polizei womöglich nicht eingeschritten sei, um mit den Bildern die Stimmung zu ihren Gunsten zu drehen. Das halte ich für nicht sachgerecht. Der damalige Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde ist niemand, der lange fackelt, und man muss auch wissen, dass da keine Entscheidungen allein in einem Hinterzimmer getroffen werden. Alle Schilderungen deuten zumindest auf eine subjektive Gefahrenwahrnehmung hin, die ja auch dazu führte, dass die verdeckt ermittelnden Polizisten sich zurückziehen mussten, weil es für sie zu gefährlich wurde. Der größere Fehler war wohl, im Trubel der Lagebereinigung schlicht keine Beweise für die Gefährdung der Polizisten gesichert zu haben. Für die Polizei war es offensichtlich eine sehr starke Belastungssituation.

Ist diese Belastung ein Grund dafür, dass es zu ungerechtfertigter Gewalt von Seiten der Polizei kam?

Belastung war da, aber sie rechtfertigt erst einmal keinen einzigen Übergriff. Ich finde die Bilder und Gerüchte wichtiger, die kursierten. Sicher spielt die Müdigkeit der Polizisten eine Rolle, vor allem aber das Gefühl, von allen Seiten angegriffen zu werden, all das befördert ein Lagerdenken, das nicht gut ist. Es wurde nur noch von Chaoten gesprochen, die militärisch organisiert und der Polizei ebenbürtig oder gar überlegen seien. Wenn sich die Polizei angegriffen fühlt, dann wirkt Polizistenkultur aggressionssteigernd.

Welche Kultur meinen Sie?

Es gibt eine ausgeprägte Solidaritätskultur unter Polizisten. Wenn sie angegriffen werden, nehmen sie das sehr viel drastischer wahr als in anderen Situationen. Und sie regieren dann auch härter. Allerdings vertraut die Bevölkerung darauf, dass die Polizei mit ihrem Gewaltpotenzial maßvoll umgeht. Deswegen werden Verstöße so besonders stark wahrgenommen.

Für Polizisten in Hamburg wird nun eine Kennzeichnungspflicht eingeführt. Die CDU sieht darin ein Einknicken gegenüber den vermummten Randalierern. Sie will die Rote Flora zum Wahlkampfthema machen.

Es ist eine weitere Folge des G20-Gipfels, dass die gesamte Linke zu Chaoten abgestempelt wird. Das findet sich auch in Teilen der Polizei. Ich erlebe eine kollektive Aversion gegen alles, was links ist. Die Rote Flora ist dafür die Supermetapher. Dass sie zum angeblichen Kristallisationspunkt der Zerstörung geworden ist, ist ein lieb gewordenes Bild der konservativen Kräfte. Es gibt natürlich einen harten Kern an Gewalttätern, aber ich sehe gerade bei den CDU-Vertretern im Sonderausschuss keine Bereitschaft, die Vielfalt der Kritik zu differenzieren. Damit diskreditieren sie ganz viele Menschen, die friedlich demonstriert haben.

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