Russland, Fußball-WM und Repression: Hier das Stadion, dort die Strafkolonie

Russland ist im WM-Fieber, die Fans sind begeistert. Doch hinter den glänzenden Fassaden geht die Repression gegen Andersdenkende weiter.

Sportfunktionäre, Promis und Putin mit einem Trikot

Ein Trikot mit der 11 für Putin, Haft für 156 politische Häftlinge Foto: AP

MOSKAU taz | Russland hat Spaß. Die Fußball-WM ist ein riesiger Erfolg. Hunderttausend frohgemute Besucher strömen durch das Land. Täglich schwärmen sie in russischen Medien, wie großartig Russland doch sei. Wie falsch hingegen das Bild, das die ausländische Presse von Land und Gastgeber bislang zeichnete.

Die Ausgaben für das Großereignis haben sich gelohnt. Die Imagekorrektur wäre mit Werbekampagnen allein nicht möglich gewesen. Selbst Polizisten lassen sich von der guten Stimmung mitreißen und streifen für einen Moment den strafenden Blick des russischen Ordnungshüters ab.

Verändert hat sich unterdessen wenig. Die Behörden halten für die Zeit der WM nicht einmal den olympischen Frieden ein. Vor den Winterspielen 2014 war dies noch anders: damals entließ der Kreml den Häftling und Öl-Oligarchen Michail Chodorkowski aus zehnjähriger Lagerhaft. Auch die Frauen der Politpunkband Pussy Riot, die wegen Verbreitung religiösen Hasses einsaßen, durften das Lager verlassen.

Zurzeit hat es den Anschein, als würden die Schrauben gegen Andersdenkende angezogen. Die Maßnahmen sind vielseitig: Einschüchterungen, vorübergehende Festnahmen, Lizenzentzüge für unabhängige Lehranstalten bis zu Gefängnisstrafen wegen angeblich extremistischer Posts in den sozialen Medien. Die Liste ist lang. Der Oppositionelle Wladimir Kara-Murza geht von 156 politischen Häftlingen aus, das sind mehr als in der Endphase der Sowjetunion.

Zwei Jahre Strafkolonie

Nach einer Aufführung wurden am vergangenen Mittwoch neun Mitarbeiter des Dokumentartheaters Teatr.doc von der Polizei in Gewahrsam genommen. Am nächsten Tag durften sie die Polizeistation wieder verlassen, ohne dass ihnen ein Grund für die Festnahme genannt wurde.

Das unabhängige Theater ist den Machthabern seit Langem ein Dorn im Auge. Mit Aufführungen über die Anti-Putin-Proteste im Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau oder einem Stück zu „Folter 2018“ dokumentiert die Bühne aktuelles Zeitgeschehen.

Auch Posts in den sozialen Medien werden häufiger gerichtlich verfolgt. Soeben wurde in Kaliningrad der Taxifahrer Alexander Petrowsky zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. Er soll auf dem Messenger-Dienst Telegram extremistische Äußerungen verbreitet haben. Der Eintrag sei aus dem Zusammenhang gerissen, behauptet sein Anwalt.

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Nicht selten werden politische Aktivisten auch wegen der Teilnahme an Protesten verurteilt, obwohl sie nicht vor Ort waren. Das widerfuhr dem Anarchisten Dmitri Butschenkow. Er wurde Ende 2015 festgenommen, weil er im Mai 2012 an der Anti-Putin-Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz teilgenommen haben soll. Anderthalb Jahre saß er in Untersuchungshaft, danach im Hausarrest.

Erst jetzt wurde bekannt, dass ihm die Flucht nach Litauen gelang. Parallel lief in Moskau gegen ihn ein Prozess, der mit einem Schuldspruch geendet hätte. Das Gericht ließ nicht gelten, dass er im Mai 2012 gar nicht in Moskau gewesen war. Der Europäische Gerichtshof sprach ihm inzwischen eine Entschädigung zu.

Prozess gegen den Vorsitzenden von Memorial

Wenn die russische Justiz Anklage erhebt, gibt es für die Betroffenen kaum ein Entrinnen. Nur ein Bruchteil von 0,3 Prozent der Prozesse endet in Russland mit einem Freispruch. Die Strafverfolgungsbehörden sehen es als ihr Privileg an, Verdächtige nicht nur zu verurteilen, sondern abzuurteilen. In dieser Logik wäre ein Freispruch eine Niederlage. Die Beweisführung wird so gedreht, dass der Angeklagte schuldig ist und die Erfolgsstatistik nicht schmälert.

Prominentester Fall ist der Prozess gegen den Historiker Juri Dmitrijew, den Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Memorial in Karelien. Dmitrijew wurde 2016 wegen des Verdachts der Pädophilie festgenommen. Die achtjährige Adoptivtochter hatte er unbekleidet fotografiert, um ihre Entwicklung gegenüber dem Jugendamt zu dokumentieren. Unabhängige Experten bestätigten, dass es sich nicht um pornografische Fotos handelte und die Aufnahmen medizinischen Zwecken dienten. Die Fotos waren auch nicht verbreitet worden. Nach anderthalb Jahren sprach ihn ein Gericht frei. Viele Honoratio­ren hatten sich für den 62-Jährigen eingesetzt.

Der Historiker entdeckte 1997 die Massengräber von Sandomorch. Dort hatte der NKWD, Vorgänger des KGB, 1937 Tausende Gefangene hingerichtet, darunter viele Vertreter der ukrainischen Intelligenz.

Im April sprach ihn ein karelisches Gericht frei. Am Eröffnungstag der WM kassierte dasselbe Gericht das Urteil allerdings wieder und die Staatsanwaltschaft erhob erneut Anklage. Wieder geht es um „ gewalttätige Handlungen sexuellen Charakters“ gegenüber der Tochter. Sollte Dmitrijew verurteilt werden, drohten 15 Jahre Haft.

Akademische Einrichtungen im Visier

Der Menschenrechtler widerspricht dem Kreml-Entwurf einer erfundenen Geschichte und beweist Mut, die staatlich begangenen Verbrechen ans Licht zu holen. Damit stellt er sich in heutiger Wahrnehmung wieder gegen das Kollektiv.

Ähnlich geht es Oyub Titijew, dem Leiter Memorials in Tschetschenien. Der 60-Jährige war im Januar festgenommen worden. Die tschetschenische Polizei fand in seinem Wagen 180 Gramm Marihuana. Diese seien ihm untergeschoben worden, behauptet er. Auch die Kollegen und Tatjana Lokschina, Leiterin von Human Rights Watch, halten den Fall für konstruiert. Republikchef Ramsan Kadyrow würde sich gerne des Memorialbüros vor Ort entledigen. Titijew wies dem Sultan von Grosny massive Menschenrechtsverletzungen nach. Diese Woche verlangte Titijew, die Gerichtsverhandlung an einen Ort außerhalb Tschetscheniens zu verlegen. Der Prozessbeginn wurde auf nächste Woche verschoben. Noch ist nicht klar, wo die Verhandlung stattfindet.

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Auch der ukrainische Regisseur Oleg Senzow ist politischer Häftling. Seit zwei Monaten befindet er sich im Hungerstreik und fordert die Freilassung von 64 in Russland eingekerkerten Landsleuten. Bislang sträubte sich der Kreml, den Filmemacher auszutauschen. Er war wegen vermeintlich terroristischer Anschläge zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt worden.

Unter den Häftlingen ist auch Wolodomir Baluch. Er erhielt im letzten Jahr eine vierjährige Gefängnisstrafe. Sein Vergehen: In Simferopol stellte er im Hof eine ukrainische Fahne auf und montierte eine Gedenktafel für die Opfer des Aufstands auf dem Maidan 2014 in Kiew. Die Polizei will bei ihm Waffen und Munition gefunden haben. Seine Mutter trat in den Hungerstreik. Das sind nur repressive Momentaufnahmen. Das tatsächliche Ausmaß reicht tiefer. Die krimtatarische Minderheit ist permanenter Drangsalierung auf der Halbinsel ausgesetzt.

Ein Schlaglicht, wohin es gehen könnte, wirft das Vorgehen gegen akademische Einrichtungen. Der russisch-englischen Moscow School of Social and Economic Sciences wurde vergangene Woche die Akkreditierung entzogen. Die renommierte Europäische Universität St. Petersburg verlor die Lehrlizenz bereits 2017. Hochburgen des westlichen Denkens werden geschleift.

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