Forscher über Antisemitismus in Schulen: „Das Beschweigen schadet nur“

Schulen müssen verpflichtet werden, antisemitische Vorfälle zu melden, fordert Antisemitismusforscher Samuel Salzborn.

Ein Mädchen guckt auf Denkmal für die ermordeten Juden Europas

„Es ist großer Fortschritt ist, dass die Shoah fester Bestandteil des Unterrichts ist“, sagt Samuel Salzborn Foto: dpa

taz: Herr Salzborn, nach einer aktuellen Umfrage von CNN wissen 40 Prozent der jungen Deutschen kaum etwas über den Holocaust. Gleichzeitig berichten LehrerInnen und Mobbing-Beratungsstellen, wie normal antisemitische Äußerungen heute an Schulen sind. Sehen Sie einen Zusammenhang?

Samuel Salzborn: Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang und es gibt ihn auch nicht. Der Zusammenhang ist, dass die historische Auseinandersetzung mit der Shoah im Schulunterricht unabdingbar dafür ist, dass sich Schülerinnen und Schüler empathisch mit Antisemitismus in der Gegenwart auseinandersetzen können. Der Nicht-Zusammenhang ist, dass Antisemitismus sich heute aus ganz verschiedenen Quellen speist, die zum Teil überhaupt nicht im Unterricht behandelt werden. Etwa aus dem populären Gangsterrap.

In der Sprache bleibt Antisemitismus aber oft klar bei der NS-Zeit. Im vergangenen Jahr gab es mehrere Vorfälle, in denen sich jüdische SchülerInnen Sprüche über Gas oder Vergasung anhören mussten. Warum ist die Vernichtungsfantasie der Nazis 74 Jahre nach Auschwitz immer noch lebendig?

Einer Illusion darf man sich nicht hingeben: Schülerinnen und Schüler, die sich antisemitisch äußern, haben sich ja nicht umfassend mit Antisemitismus beschäftigt. Sie greifen die Stereotype auf, die auch in der Gesellschaft vorhanden sind. Also Ansichten aus dem Nationalsozialismus und auch aus dem christlichen Antijudaismus. Die sind ja nach wie vor sehr präsent: in der Musik, in den sozialen Medien, in der Alltagskultur der Jugendlichen. Das heißt, die Jugendlichen bedienen sich dieser Bilder, ohne sie intellektuell zu verstehen. Das Gefährliche daran ist, dass im Antisemitismus immer die Vernichtungsandrohung steckt. Das „Andere“ gilt als bedrohlich und zugleich unterlegen. Dieses Gefühl wird bei den Jugendlichen aktiviert.

In Ihrem am Montag veröffentlichten Gutachten zum Thema Antisemitismus an Schulen kritisieren Sie, dass in vielen Bundesländern die Shoah zwar fester Bestandteil der Lehrpläne ist, die jüdische Geschichte oder der Nahostkonflikt hingegen im Unterricht teilweise gar nicht behandelt werden. Warum ist das problematisch?

Zunächst möchte ich betonen: Es ist großer Fortschritt ist, dass die Shoah und der Nationalsozialismus fester Bestandteil des Unterrichts sind. Allerdings scheint Antisemitismus auf diese Zeit verengt. Man erfährt nichts über die lange Vorgeschichte und schon gar nicht über sein Fortleben nach 1945. Ein Problem dabei ist, dass Jüdinnen und Juden im Schul­unterricht vor allem als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt werden, oder – genauso einseitig – als Aggressoren im Nahostkonflikt. Was fehlt, ist der jüdische Alltag, die Religion, die Kultur. Die fallen einfach unter den Tisch. Jüdischer Alltag wird exteriorisiert, Jüdinnen und Juden nie als normale Menschen dargestellt.

Das befeuert wiederum die bestehenden antisemitischen Bilder. Das Problem wird noch verstärkt durch Schulbücher, die sich antisemitischer Klischees bedienen. In einigen Bundesländern werden Schulbücher gar nicht mehr zentral geprüft …

Dieser Verantwortung müssen sich die Kultusministerien stellen. Die Länder, die momentan nicht zentral Schulbücher prüfen und zulassen, haben dringenden Nachholbedarf. Ein anderes Defizit ist, dass Fächer wie Geschichte und Politik zu wenige Stunden in der Stundentafel haben. Sie müssten aber dringend Hauptfachcharakter bekommen, wenn man politische Bildung ernst nimmt. Mir ist es bis heute ein Rätsel, warum man bestimmte naturwissenschaftliche Fächer höher gewichtet als das, was den Men­schen in die Handlungsfähigkeit als soziales Wesen versetzt. Und drittens tragen auch Schulbuchverlage eine Verantwortung für die zum Teil mangelhafte Qualität. Da müssen sich bestimmte Verlage die Frage gefallen lassen, wie sie ihre Au­toren und Autorinnen auswählen.

41 Jahre alt, ist Gastprofessor für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Im Herbst erschien sein Buch Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne“ bei Beltz Juventa.

Lehrplan und Schulbücher sind nicht die einzigen Defizite. Die FU Berlin hat das Lehrangebot an 79 deutschen Hochschulen untersucht und festgestellt: Selbst in Geschichte oder Politikwissenschaften werden wenig tiefergehende Veranstaltungen über den Holocaust angeboten. Was muss passieren?

Für das Fach Politikwissenschaft kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Das Interesse für Rechtsextremismus oder Antisemitismus ist eher gering. Das ist sehr bedauerlich, gerade weil diese Themen in den 50er Jahren für das Fach noch zentral waren. Heute ist Rechtsextremismus weitgehend aus den Kerncurricula der Bachelor/Master-Studierenden rausgefallen. Wenn es deutschlandweit in der Politikwissenschaft keine einzige Professur zum Rechtsextremismus gibt und die Antisemitismus-Professuren nur im Fach Geschichte, muss man sich fragen, woher angehende Lehrerinnen und Lehrer ihr Wissen dann nehmen sollen.

Wissensvermittlung ist eine Kernaufgabe von Schule – Demokratieerziehung die andere. Beim Umgang mit Antisemitismus attestieren Sie Schulen ein „mangelndes Problembewusstsein“ – den Schulleitungen sogar „Problemverdrängung“. Was meinen Sie genau?

Ich halte es für einen Fehler, dass sich viele Schulen den antisemitischen Vorfällen nicht offensiv stellen. Im Gegenteil. Werden Schulleiter nicht dazu angehalten, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, halten sie die Vorfälle eher klein. Ich bin überzeugt, dass die Ministerien die Schulen zu dieser Auseinandersetzung verpflichten müssen, über verbindliche Melde- und Monitoringsysteme. Nur wenn man antisemitische Vorfälle offensiv benennt, kann man auch dagegen vorgehen. Das Beschweigen schadet nur.

Die Studie: Am Montag stellten die Technische Universität Berlin und die Justus-Liebig-Universität Gießen das Gutachten „Antisemitismus in der Schule“ vor. Die beiden AutorInnen Samuel Salzborn und Alexandra Kurth haben darin die Bundesländer nach ihren konkreten Aktivitäten in der schulischen Bekämpfung von Antisemitismus befragt. In ihrer Bestandsaufnahme ziehen die ForscherInnen auch die Qualität der Lehramtsausbildung, die Behandlung der Themenfelder Shoah und Nationalsozialismus im Unterricht und die Darstellung des Judentums in Schulbüchern heran.

Die Ergebnisse: Handlungsbedarf besteht für die AutorInnen vor allem im strukturpolitischen Bereich. Es fehlten „fast flächendeckend“ hinreichende Meldesysteme für antisemitische Vorfälle. Generell herrsche an den Schulen ein „mangelndes Problembewusstsein“ bei Antisemitismus. In mehreren Bundesländern fehlten zudem Zulassungsverfahren für Schulbücher. Bei den Schulbüchern selbst erkennen die Autoren „Mängel“ bei der Darstellung Israels oder des Judentums. (taz)

Idealerweise sind Lehrkräfte geschult und gewillt, Antisemitismus als solchen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Das ist aber genau das Problem, oder?

Wir müssen unterscheiden zwischen einer langfristigen und kurzsichtigen Strategie. Langfristig spielen bessere Schulungen an den Hochschulen und überarbeitete Schulbücher eine große Rolle. Kurzfristig ist es wichtig, auch auf zivilgesellschaftliche Akteure zu setzen. Gerade in Berlin sind viele kompetente Beratungsstellen. Hier wäre ein hilfreicher Schritt, Projektmittel für diese Träger zu verstetigen, damit diese Fachkräfte in Konfliktfällen an den Schulen zur Verfügung stehen.

Vergangenes Jahr haben diverse PolitikerInnen verpflichtende KZ-Besuche gefordert. Was halten Sie davon?

Das Besuchen von Gedenkorten sowie die Auseinandersetzung mit konkreten Opferbiografien halte ich für ein wichtiges und richtiges Element in der Präventionsarbeit. Allerdings nur als Ergänzung zum Unterricht. Findet diese Kontextualisierung nicht statt, kann bei Jugendlichen das Gefühl entstehen, dass das Ganze wenig mit ihnen und ihrer Gegenwart zu tun hat. Das ist das große Risiko.

Viele Familien, deren Kinder in der Schule antisemitisch beleidigt oder körperlich angegriffen wurden, berichten von einer Bagatellisierung des Vorfalls. Was raten Sie Betroffenen in so einem Fall?

Das Hauptproblem ist, dass in diesen Fällen eine ernsthafte Auseinandersetzung offenbar nicht stattfindet. Das Problem wird bagatellisiert, verdrängt. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Eltern in so einer Situation ihr Kind von der Schule nehmen. Hinter diesen Erfahrungen steckt aber auch ein strukturelles Problem. Hier liegt die Verantwortung nicht nur bei den Schulleitungen, sondern auch eindeutig bei den Kultusministerien. Die wissen um die Probleme mit Antisemitismus an Schulen. Sie müssen unbedingt Meldesysteme schaffen, damit solche Fälle der Öffentlichkeit gar nicht entzogen werden können. Dann müssen Schulen notgedrungen anders mit dem Thema umgehen.

Berlin nimmt dabei die Pio­nierrolle ein. Die Schulen müssen ab dem kommenden Schuljahr antisemitische Vorfälle melden. Es gibt Notfallpläne mit genauen Handlungsanweisungen. Wie sieht es im Rest der Republik aus?

Berlin hat hier ganz klar eine Vorbildfunktion. Das sehen wir auch daran, dass das Abgeordnetenhaus den Senat vor Kurzem aufgefordert hat, eine Landeskonzeption gegen Antisemitismus zu entwickeln, bei der es auch um Schulen geht. Damit zeigt Berlin, dass es ein Problem mit Antisemitismus hat. Andererseits, dass es klar gegen Antisemitismus vorgehen will. So weit sind die anderen Bundesländer nicht: dort glaubt man, Antisemitismus als ein Problem unter vielen abhaken zu können. Das ist meines Erachtens eine schwere Fehleinschätzung.

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