Ungewöhnliches Reisekonzept: Schnitzeljagd durch Palästina

Einheimische übernehmen die Führung vor Ort, Unterkunft kann vermittelt werden – eine individuell gestaltete Tour durchs Westjordanland.

Colawerbung auf Dächermeer

Hinter dem Werbeplakat liegt die Altstadt von Hebron Foto: Philipp T. Hinz

Zügig steigt Amir in das Gespräch ein: „Was willst du von der Reise? Den politischen Konflikt sehen und verstehen oder Designer-Drinks und Party?“ Dass die „Autonome Region Palästina“, mehr zu bieten hat als „steineschmeißende Jugendliche“, darum geht es ihm mit seinem Angebot für Bildungsreisen „Stories of Palestine“. Wohnt der Reisewillige zufällig in Berlin, trifft sich Amir, wie hier und jetzt, zum Beratungsgespräch gerne in einer der Shisha-Bars auf der „arabischen Straße“ in Berlin Neukölln.

Die Gäste, ausschließlich Männer, spielen Backgammon oder fahren mit ihren Fingern über ihre Gebetsketten und durch ihre aufwendig frisierten Bärte. Amir, selbst gebürtiger Deutscher mit palästinensischen Wurzeln, skizziert den Reiseplan: „Wir starten immer in Jerusalem. Dann hangelst du dich mit einer individuellen Anleitung von einem Einheimischen zum nächsten.“ Amir organisiert auch die Übernachtungen – auf Wunsch bei den Familien der palästinensischen Hosts.

Wenige Wochen später im Westjordanland, Bethlehem: An einer staubigen Straßenecke fordert mich der Fahrer des palästinensischen Linienbusses 21 zum Aussteigen auf. Nichts deutet auf ein Stadtzentrum oder eine heilige Stätte hin. Stattdessen: eine glühend heiße Beton-Sandwüste. Hier soll also gleich der lokale Führer auftauchen: Baha. Auf dem Foto sieht er ein wenig aus wie Bob Marley. Und nachdem ich von mehreren Palästinensern auf Arabisch Taxifahrten in ihren Privatwagen angeboten bekommen habe, kommt tatsächlich jemand über die Straße geschlurft, dessen langes zerzaustes Haar halb aus einer olivgrünen Strickmütze herausfällt.

Wand der Apartheid

Bahas Händedruck ist fest, sehr fest. Er steckt sich eine Zigarette an und erzählt: Vor 38 Jahren ist er hier in der Region aufgewachsen, zusammen mit sieben Brüdern und einer Schwester. Nach der Schule studierte er in Sri Lanka Politikwissenschaften. Schließlich arbeitete er für den Christlichen Verein Junger Menschen in New York. „Mich hat genervt, dass die Amerikaner mir oft das Gefühl gaben, mehr über Palästina zu wissen als ich. Also kam ich hierher zurück.“

Die Reise„Stories of Palestine“ führt Reisen mit einer Dauer von 4 bis 21 Tagen durch. Im möglichen Programm enthalten sind alle größeren Städten wie Ramallah, Nablus, Jericho, Ost-Jerusalem, Hebron, Bethlehem sowie historische Orte wie das griechisch-orthodoxe Kloster Mar Saba oder die Ruinen vormoderner Hochkulturen (der Kanaaniten, Israeliten, Hellenen, Herodianer, Römer, Byzantiner) in Sebastia. Die Aktivitäten reichen von Fahrrad-Touren, Mosaik-Workshops und dem Pflanzen von Olivenbäumen über kulinarische Touren bis hin zum Besuch der palästinensischen Flüchtlingslager und lokaler Hilfsorganisationen.

KostenFür zwei Personen kosten die Unterkünfte zwischen 25 und 90 Euro pro Übernachtung, die begleiteten Touren jeweils zwischen 40 und 70 Euro pro Station. Eine siebentägige Reise kostet ohne Anreise zwischen 700 und 1.500 Euro für zwei Personen. Auf Wunsch kann die Unterkunft selbst organisiert werden. Alle Einkünfte aus den Touren kommen den einheimischen Familien zugute.

KontaktAmir Ali, 0178/6576588, info@storiesofpalestine.com

In einem gemeinnützigen Projekt hilft er Olivenbäume auf palästinensischem Land anzupflanzen: „Über 1 Million Olivenbäume sind seit 2001 dem Bau von jüdischen Siedlungen gefallen. Die Bäume stellen aber in vieler Hinsicht die ökonomische und kulturelle Grundlage palästinensischen Lebens dar.“

Zu Fuß geht es weiter zur ­israelischen Sperranlage, der sogenannten „Wand der Apartheid“. Aus der Ferne türmen sich Betonfelsen in Plattenbauweise auf. Mit acht bis neun Metern ist die Sperranlage hier doppelt so hoch wie die Berliner Mauer. Sie soll jüdische Siedlungen und Straßen schützen, aber ist auf ihren aktuell 465 Kilometern Länge fast ausschließlich auf ­palästinensischem Boden errichtet.

Sie durchschneide wichtige Transitwege zwischen palästinensischen Städten. Schon im Jahr 2014 sei sie von den Vereinten Nationen für ­völkerrechtswidrig erklärt worden. „Von den über zwei Millionen Touristen, die Bethlehem meist nur bei einem Tagesausflug besuchen, um durch die Geburtskirche und den Souvenir-Shop geführt zu werden, sieht kaum einer diese Mauer. Dabei erzählt sie viel vom Leben im modernen Bethlehem“, sagt Baha.

Wo die Mauer einen Knick macht, sitzt ein Wachturm darauf. Molotow-Cocktails und weiße Farbbeutel haben ihre Spuren hinterlassen, und überall überdimensionale Graffitis: Eine Trump-Karikatur, die den Wachturm umarmt, oder eine Friedenstaube mit schusssicherer Weste vom englischen Künstler Banksy.

Per WhatsApp und Location-Sharing

Bahas Sicht auf Banksys weltbekannte Graffitis ist zwiegespalten: „Es war eine gute Idee. Inspiriert von den Graffitis in den palästinensischen Flüchtlingslagern hat er mit seiner Kunst weltweit auf die Besatzung aufmerksam gemacht.“ Aber die Dynamik hat sich ins Makabere gewendet. Viele Touristen fotografierten sich heute mit Smiley vor der Wand. Dann tauchen die Fotos auf ihren Instagram-Wänden oder sogar in Dating-Apps auf.

Baha, Politikwissenschaftler

„Über eine Million Oliven-bäume wurden für Siedlungen gefällt“

Zum Ende des Tages führt Baha in die Bar Al Jisser, die von einem palästinensischen Dokumentarfilmer und seiner holländischen Frau betrieben wird. Vor der sorgfältig bestückten Spirituosen-Bar stehen zitronengelbe Metallhocker. Zur Decke hin ist ein begehbarer Quader aus schwarzem Metallgitter installiert, wie eine Röhre. Die Metallröhre und der Name der Bar, („Al Jisser“ heißt übersetzt „Die Brücke“), sollen an die Grenze zwischen Jordanien und Palästina erinnern, die „King Hussein Bridge“.

Da Palästinenser aus dem Westjordanland nicht über die Nachbarländer Syrien oder Israel ausreisen können, ist es der einzige Grenzpunkt, an dem sie aus ihrem Land herauskommen. „Das ist ein Flaschenhals, ein Nadelöhr. Die Grenzüberquerung dort ist eine Tortur. Übrigens nicht nur für Palästinenser. Auch für Ausländer, die angeben, das Westjordanland und nicht Israel besuchen zu wollen“, behauptet Baha und steckt sich die nächste Zigarette an.

Am nächsten Morgen geht es vom zentralen Taxistand in Bethlehem in einem gelben Sammeltaxi weiter nach Hebron, die mit über 200.000 Einwohnern größte Stadt Palästinas. Sein wirtschaftliches Kraftwerk. Per WhatsApp und Location-Sharing werde ich angeleitet, an welcher Ecke ich aus dem Wagen zu springen habe. Dort wartet bereits Ehab. Ein Jahr hat er in den USA arabisch unterrichtet. Heute arbeitet er in einem Hostel in Ramallah an der Rezeption.

Die zwei Zonen von Hebron

Zu Fuß geht es einen Berghang hinunter in Richtung Stadtzentrum. „Sandstein“, erzählt Ehab, „ist eine der Hauptindustrien von Hebron. Plötzlich ruft er “Hier entlang“, er zeigt auf einen weißen Flachbau am Straßenrand „Das ist die letzte aktive Kufiya-Fabrik. Die meisten sogenannten Pali-Tücher sind heute Billigware aus China. Hier werden noch die Originale designt und produziert.“

Im Fabrikraum rattern geräuschvoll die eisernen Webstühle. Der Besitzer Hirbawi und sein Sohn laufen um die rund zwanzig Maschinen und korrigieren manuell die Arbeit der ausgeleierten, alten Maschinen. „Das Tuch kommt ursprünglich aus dem Norden der Arabischen Halbinsel, Nord-Irak und Nord-Syrien“, erzählt Hirbawi. Erst unter britischer Besatzung in den 1930er Jahren wurde es zum Symbol des palästinensischen Freiheitskampfs. „Die Briten haben einfach alle für vogelfrei erklärt, alle abgeschossen, die ein Pali-Tuch trugen“, erklärt er. Arafat habe den Kult um das Tuch wiederbelebt.

Yusef Audeh,Künstler

„In Ramallah – Stadt der leichten Unterhaltung – gibt es eine schwullesbische Szene“

Fußläufig geht es weiter in Richtung Altstadt. Ehab erklärt, dass Hebron nicht nur der wirtschaftliche Motor von Palästina ist, sondern auch das Epizentrum des sogenannten Konflikts. Schon zu Beginn der zionistischen Bewegung in der 1920er Jahren gab es hier zahlreiche Terroranschläge.

Heute ist Hebron in zwei Zonen aufgeteilt: 80 Prozent der Stadt liegen in der Zone H1, die von Palästinensern administriert wird. Für die restlichen 20 Prozent in H2, hauptsächlich im Inneren der Stadt, gilt israelisches Militärrecht. „Da leben auf wenigen Straßen 800 Siedler, bewacht von mehreren tausend israelischen Soldaten“, erzählt Ehab. Die Siedler berufen sich auf die Jahrhunderte überdauernde Präsenz der Juden hier und auf die besondere Bedeutung der Stadt im Alten Testament.

Direkt neben einer geschäftigen arabischen Marktstraße grenzt die erste Sicherheitsschleuse an – ein viele Meter hohes Stahlgerüst. „Mehrere zehntausend Palästinenser leben in der israelischen Sicherheitszone H2 auf der Seite der Siedler. Sie haben einen speziellen Ausweis und müssen jedes Mal durch diesen Checkpoint, wenn sie von der palästinensischen Seite der Stadt zurück nach Hause wollen. Ich darf da gar nicht hin, H2 ist für mich Sperrgebiet.“

Die Siedlung Gush Etzion

Wir laufen durch den alten Markt, der südlich an das Sperrgebiet angrenzt. Über den Gassen der Einkaufsstraße schirmen feinmaschige Gitter das Marktreiben ab. „Die mussten die Israelis selbst anbringen, weil viele Siedler von den umliegenden Häuser Steine auf die palästinensischen Geschäfte und ihre Kunden warfen“, sagt Ehab. Am Ende einer verlassen wirkenden Gasse liegt das Geschäft von Judi.

Er steht vor einem meter­hohen Zaun, der seine Ladenwohnung von dem darüber angrenzendem Siedlerhaus trennt. Dahinter türmt sich der Müll. „Die Siedler werfen nicht nur Steine, sie werfen Müll, Wasserflaschen … alles Mögliche“, erzählt er. Warum er noch hier wohnen will, wenn sein Leben unter Dauerbeschuss ist? „Das Haus ist die Ehre der Familie. Hier lässt man sich nicht einfach so verjagen.“

Am nächsten Tag geht es zur jüdischen Siedlung Gush Etzion. Für das Treffen mit dem Siedler Myron ändert Ehab am Morgen mehrmals den Treffpunkt. Fest steht nur, ich soll nahe dem Supermarkt an einer Straßenkreuzung mit angespannter Sicherheitslage „übergeben“ werden. Da sich hier die Palästinenser- und jüdischen Siedlerorte besonders dicht schneiden und die Straßen von beiden genutzt werden, kommt es häufig zu Zwischenfällen. Die Kontrollen durch israelische Soldaten sind besonders streng. Myron klingt abgehaspelt und nervös am Handy. „Treffen wir uns jetzt am Straßenrand des Kreisverkehrs oder an einer Bucht vor dem Einkaufzentrum?“ Der Puls steigt. Doch die Übergabe klappt.

An der Einfahrt zur Siedlung Gush Etzion wird Myron von einem Soldaten freundlich gegrüßt und durchgewunken. Hinter der Schranke tut sich eine Parallelwelt auf: Rechts und links der Straße säumen frischgrüne Hartlaubgewächse die Fußwege. Zweispurige Fahrradwege, die an EU-Normativität erinnern. Es ist so sauber, als hätte man über die Siedlung eine unsichtbare Glasglocke gestülpt – um sie vom Sand der angrenzenden Wüste und dem „Chaos palästinensischen Lebens“ abzuschirmen.

Myrons Haus geizt nicht an Wohnlichkeit. Die Gäste nehmen im großzügig geschnittenen Salon auf der weißen Sitzgarnitur Platz. „Wir haben nicht immer so gewohnt. Als wir 1971 aus Kalifornien hierher zogen, lebten wir auf 54 Quadratmetern“, erzählt Myron. Dieser Block der Siedlung sei ein Kibbuz, eine kollektive Gemeinschaft, deren frühen Ideale der gegenseitigen Hilfe und Sozialwirtschaft stark vom Kommunismus inspiriert waren. „Ich arbeitete auf dem Feld und meine Frau leitete die Kantinenküche.“

Zu Beginn habe es noch nicht einmal Geld gegeben. Heute sei das anders: Die jüngeren Leute haben Bürojobs in Technologie-Start-ups auf der israelischen Seite. Auch die Kantine wird nicht mehr kollektiv betrieben. Aber das Autonomiepinzip ist trotzdem weitestgehend erhalten geblieben: Der Kibbuz, wie die meisten anderen Siedlungen auch, sollen sich finanziell weitestgehend selbst tragen „und deshalb müssen sie auch immer weiter wachsen, um überhaupt weiter existieren zu können, weil sonst nur noch alte Menschen über bleiben, die keiner mehr finanzieren kann.“

Techno in Ramallah

Meine Schnitzeljagd endet in Ramallah – der Stadt der leichten Unterhaltung. An der Hauptstraße reihen sich Stundenhotels neben Cocktail-Bars. Hier regiert das schnelle Geld, und das kommt in Palästina meist von Hilfsorganisationen. Denn das Land hängt am Tropf ausländischer privater und staatlicher Verbände. Wer gebildet und betucht ist, trifft sich zum Beispiel in der Snobar: Die Bar liegt wie ein hölzernes Piratenschiff gestrandet im dichten Wald eines Berghangs. In der Mitte ein Pool, in dem Frauen und Männer in leichter Bekleidung zu technoistischen Beats ihre Pirouetten drehen.

„Während anderswo in Palästina das Scharia-Gericht über Zwistigkeiten in Mehr-Frauen-Ehen entscheidet, gibt es hier in Ramallah sogar eine kleine schwullesbische Szene. Die Leute vergessen oft, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen im Westjordanland seit den sechziger Jahren legal sind“, erzählt der junge amerikanisch-palästinensische Künstler Yusef Audeh. Nach seinem Studium in New York und Boston zog es ihn zurück in seine Heimat. Wie fühlt sich Widerstand an, in einem seit über 70 Jahren besetzten Land? „Generation für Generation arbeiten wir daran, unser kulturelles Erbe hier zu bewahren.“

Yusuf erzählt, dass Palästina zunehmend von wissbegierigen Touristen aus Europa, Japan und Südkorea besucht wird, die auf der Suche nach einer ­alternativen Sicht auf das geteilte Land sind, die sich mit ehemaligen israelischen Soldaten treffen und mit politischen Aktivisten.

Und wolle man die antiken Ruinen Sebastia oder das griechisch-orthodoxe Kloster in Mar Saba besuchen, „dann geht das sowieso nur mit einem lokalen palästinensischen Führer und Fahrer, denn diese Ort liegen schwer zugänglich im palästinischen ­Hinterland“, lacht Yusef und blinzelt über seine silbergraue futuristische Sonnenbrille hinweg in den orange­farbenen Abendhimmel.

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