Taktikblogger über die EM: „Die falsche Neun ist gar nicht falsch“

Tobias Escher erklärt, mit welcher Strategie Portugal gegen Spanien gewinnen kann. Auch kennt er die Stärken der Defensivreihen und weiß, ob man heute noch einen Mittelstürmer braucht.

Auch eine Möglichkeit: Kroatien versucht es mit der „Alle gegen einen“-Taktik gegen Spaniens Iniesta. Bild: reuters

taz: Herr Escher, langweilt Sie das spanische Spiel auch schon wie so viele Kommentatoren?

Tobias Escher: Nein, mich langweilt das nie. Aber ich mag es im Zweifelsfall auch, wenn ein Team gut kontern kann.

Den Spaniern wird vorgeworfen, zu langsam und zu wenig abschlussorientiert zu spielen.

Das Problem ist, dass sie zwar ein sehr starkes Passspiel haben, aber niemanden, der dieses Spiel umsetzen kann. Bei Barcelona gibt es ja noch David Villa, der auch mal in den Ball reingeht oder Läufe in die Spitze macht. Der fehlt bei den Spaniern, deswegen wirkt ihr Spiel noch stärker als sonst auf Ballbesitz statt auf Effektivität bedacht. Aber ich sehe das nicht so kritisch wie andere – die Spanier haben nicht allzu viele Gegentreffer bekommen, und ich hatte nie das Gefühl, dass sie gefährdet sind.

Was macht die spanische Defensive so gut?

24, studiert Sportwissenschaften und Englisch in Hannover. Seit der WM 2010 bloggt er über Fußballtaktik. Im Jahr 2011 hat er sich mit vier anderen Bloggern auf der Seite spielverlagerung.de zusammengetan, wo sie Analysen der Bundesliga und internationaler Topligen, ein Taktiklexikon, Porträts von Trainern und Teams bereitstellen (Twitter: @Spielvrlagerung). Escher schreibt hauptsächlich über die Bundesliga und Nationalmannschaften.

Na ja, wer den Ball hat, kann schlecht ein Gegentor einfangen. Die Spanier attackieren früh, wobei ihr Pressing bei dieser EM nicht so stark ist wie bei den letzten Turnieren, da haben sie ein bisschen abgebaut. Es wird für sie auf jeden Fall schwer gegen die Portugiesen. Denn die haben bei der EM das System gespielt, das eigentlich am besten auf Spanien eingestellt ist.

Warum?

Sie haben ebenfalls ein sehr eng gestaffeltes Zentrum. Auf den Flanken arbeitet Nani sehr gut mit. Das heißt, Ronaldo wird relativ weit vorne bleiben können, ohne dass es großen Schaden macht. Und wenn eine Mannschaft schnell spielen kann und schnell auf die Flügel kommen kann, dann wird Spanien Probleme bekommen – das ist zum Beispiel gegen Frankreich aufgefallen. Italien hat das noch am besten hinbekommen. Und Portugal kann gerade das besonders gut, deswegen kann das sehr gefährlich werden.

Wie werden die Spanier Ronaldo in Schach halten?

Wahrscheinlich werden sie mit ihrem Pressing versuchen, die Pässe gar nicht erst nach vorne kommen zu lassen. Ronaldo ist ja immer dann gefährlich, wenn er Platz hat. Und wenn er den auf den Flügeln nicht bekommt, dann sucht er ihn sich halt im Zentrum.

Wie könnte Spanien das verhindern?

Zum Beispiel mit Navas, der bis jetzt immer von der Bank gekommen ist. Er könnte auf rechts außen kommen und dann hinter Ronaldo ein bisschen für Wirbel sorgen. Da könnte er auch Portugals Linksverteidiger Coentrão in Schach halten. Eventuell sollte noch Llorente vorne rein, als Abnehmer für Flanken.

Sollten die Spanier wie gegen Kroatien und Frankreich mit einer falschen Neun oder wie gegen Irland mit Torres antreten?

Torres hat noch nicht viel gebracht bisher. Ich finde die falsche Neun gar nicht so falsch, auch wenn das jetzt blöd klingt. Gerade Portugal hat im Zentrum sehr gute Spieler, da sollten die Spanier versuchen, noch weiter in die Tiefe zu gehen und trotzdem Überzahl herzustellen. Spektakulär war, dass die Spanier gegen Italien und Kroatien durch die Mitte kommunizierten, obwohl beide Gegner mit jeweils sechs Leuten im Zentrum standen.

Die portugiesische Abwehr gilt als eine der besten des Turniers. Was macht sie richtig?

Die stehen sehr gut. Veloso, der mir sehr gut gefällt, steht direkt vor der Viererkette, und sobald sich eine Lücke auftut, hilft er da aus. Er hat eine ganz tolle Antizipation. Das hat man vor allen Dingen gegen Deutschland gesehen. Wenn zum Beispiel einer von den Außen mal nach vorne geht, dann sichert Veloso ab, so können gar keine Lücken entstehen.

Die Spanier spielen oft ganz ohne Stürmer, viele Teams stellen nur noch einen auf. Stirbt der klassische Stoßstürmer aus?

Nein, das glaube ich nicht. Es kommt immer darauf an, was eine Mannschaft möchte. Wenn man wie Spanien viel auf Ballbesitz geht und es darum geht, durchzukombinieren, anstatt eine Flanke reinzuschlagen, dann ist das kein falsches Rezept. Aber es gibt auch Mannschaften, die mit zwei Stürmern relativ erfolgreich sind. Wenn ich einen Stürmer habe, bin ich vorne von dem abhängig, habe aber dahinter mehr Kombinationsstärke. Ich finde immer diese Diskussion, wie viele Stürmer man haben sollte, eher überflüssig. Es kommt darauf an, was man erreichen möchte.

Haben Sie ein Lieblingsspielsystem?

Es gibt nicht das perfekte Spielsystem. Das ist immer eine Antwort auf die Zeit und entwickelt sich. Wir sehen heute auch vieles wieder, was in den Fünfzigern im Fußball aktuell war.

Zum Beispiel?

Raumdeckung war ja lange ganz normal, und dann kam erst die Manndeckung. Heute ist die Raumdeckung wieder total im Trend, das ist immer so eine Art Spirale.

Auf spielverlagerung.de schreiben Sie lange Vorberichte und Analysen zu einzelnen Spielen – die Vorschauen auf Deutschlandspiele umfassen ausgedruckt oft sechs Seiten. Wofür der ganze unbezahlte Aufwand?

Aus Spaß an der Freude. Nach der WM 2010 haben wir fünf uns zusammengetan, vorher hat jeder für sich gebloggt. Es hat mit einem Freizeitprojekt begonnen, aber mittlerweile relativ große Ausmaße angenommen.

Für wen schreiben Sie?

Wir sind natürlich Freaks, und unser Angebot ist nicht für den Massenmarkt. Das ist wirklich nur für Leute, die sich sehr für die Mechanismen interessieren, die hinter den einzelnen Mannschaften stecken.

Man kann als Laie kaum überprüfen, ob das, was Sie schreiben, auch stimmt.

Das, was wir schreiben, ist nicht der Kelch der Wahrheit oder so. Es ist viel Interpretation. Wir schreiben zwar, ein Trainer habe eine taktische Variante aus den und den Gründen gewählt, aber er kann natürlich auch eine ganz andere Idee gehabt haben.

Wie finden Sie die EM-Berichterstattung in Fernsehen und Presse?

Ich kann verstehen, dass bei einer EM nicht allzu detailliert und komplex darüber debattiert wird, was auf dem Spielfeld passiert ist, dafür sind es zu viele Zuschauer, die sonst nie Fußball schauen. Was mich aber ärgert, ist, dass bei Spielen mit viel weniger, aber fachkundigeren Zuschauern genauso berichtet wird. Und noch mehr ärgern mich die Zeitungen, da ist viel zu wenig Analyse. Einen Spielverlauf braucht man am nächsten Tag nicht noch mal. Stattdessen würde mir mehr Tiefgang gefallen.

Freuen Sie sich denn über allgemeine Fußballbegeisterung?

Natürlich.

Wer wäre der bessere Gegner für Deutschland: Spanien oder Portugal?

Portugal haben wir schon einmal bei diesem Turnier geschlagen, also wäre es natürlich Portugal.

Und aus taktischer Sicht?

Auch da. Deutschland spielt erfolgreich auf Ballbesitz, und gegen Spanien wird das sehr schwer. Und dann kommt es darauf an, wie gut die Verteidigung ist. Da sehe ich noch ein paar Probleme bei den Deutschen.

Welche?

Beim Zurückarbeiten und dem Nichtentstehenlassen von Lücken. Gegen Griechenland haben sie ja relativ risikoreich gespielt, und entsprechend gab es dann einige Lücken, die die Griechen nur ein einziges Mal gut ausgespielt haben beim 1:1. Das ist gegen Spanien nicht so gut.

Wer wird Europameister?

Das wird ganz eng. Ich glaube sogar, dass Portugal im Halbfinale die Überraschung gegen Spanien schaffen kann. Im Finale wird dann aber der Sieger des Duells zwischen Deutschland und Italien das Rennen machen. Bei den beiden kann ich gar nicht absehen, wer gewinnt.

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