CSDs und die Mehrheitsgesellschaft: Queere Menschen machen es vor
Die Menschen auf den CSDs demonstrieren nicht nur für Minderheiten. Ihr Protest ist Ausdruck eines Universalismus von unten.

E s ist kein Gefallen der Mehrheitsgesellschaft queeren Minderheiten gegenüber, wenn sie deren Paraden zum Christopher Street Day (CSD) im Zeichen der Toleranz durch die Städte ziehen lässt. Im Gegenteil, mit ihrem Protest tun die Queers der Gesamtgesellschaft einen gewaltigen Gefallen.
In der Bundesrepublik finden in diesem Sommer so viele CSDs wie nie statt. Nicht nur in Berlin, München, Hamburg und Köln gehen die Leute auf die Straße, auch in unzähligen kleineren Städten.
Zunehmend müssen sich diese Demos jedoch gewaltbereiten Nazigruppen entgegenstellen, die zu Überfällen mobilisieren – so wie im Juni im brandenburgischen Bad Freienwalde. Umso beachtlicher ist der mutige, bunte Antifaschismus der Prides.
Strategisch verzerrtes Neutralitätsverständnis
Während CSDs attackiert werden und die Alltagsgewalt gegen queere und trans Menschen rasant ansteigt, verbot CDU-Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, dass an diesem Wochenende, anders als in den Vorjahren, die Regenbogenfahne auf dem Reichstagsgebäude weht.
Das Netzwerk der queeren Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung darf am Samstag nicht gemeinsam auf den CSD, Abgeordnete mussten die Regenbogenfahnen an ihren Bürofenstern abhängen. Zur Begründung bediente Klöckner sich eines strategisch verzerrten Neutralitätsverständnisses, wie es die AfD ins Feld führt. Erneut nimmt die Union damit eine Strategie der AfD auf. Wie schon im Februar, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Kleine Anfrage gegen die Omas gegen Rechts und andere zivilgesellschaftliche Vereine richtete.
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Gegenüber den Menschenrechten darf die Politik nicht neutral sein, das bezeugt schon das Grundgesetz. Trotzdem bekräftigte CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz die Fahnen-Entscheidung Klöckners mit dem Argument, der Bundestag sei kein „Zirkuszelt“. Seine Äußerung ist keine unbedachte Entgleisung. Sie kommt bei uns in den queeren Communitys als eine klare Ansage an, dass wir von dieser Regierung weder den notwendigen Schutz noch Solidarität erwarten können.
In den Medien werden diese Manöver als Verweigerung des Minderheitenschutzes gewertet. Doch so wahr das ist, geht es vielmehr um Demokratieschutz: Die CDU unter Merz stellt sich offen gegen diejenigen, die für eine demokratische Gesellschaft eintreten. Denn die Protestierenden verteidigen Grundrechte, die das Leben jeder und jedes Einzelnen bedingen, etwa Freiheit und Selbstbestimmung. Sich möglichst frei entfalten zu können, ist ein Bedürfnis, das alle Menschen teilen, bei allen Unterschieden. Queere Menschen aber mussten hart um selbstbestimmte Freiheit kämpfen.
Emanzipationsbewegungen schieben die Demokratie an
Die Emanzipationsbewegungen von Schwulen, Lesben und trans Menschen haben in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Liberalisierungs- und Demokratisierungsschübe gebracht, die das Leben aller freier gemacht haben. Das zeigen Historikerinnen wie Dagmar Herzog und Andrea Rottmann mit ihrer Forschung.
Dass Heterosexuelle Beziehungen nach ihrem Belieben gestalten können, verdanken sie in großen Teilen den Queers, die ihr Überleben, ihre Lebens- und Liebesweisen verteidigen mussten. Das gilt für das frühe 20. Jahrhundert, bevor der Nationalsozialismus die mühsam errungenen Freiräume mit Verfolgung überzog. Noch mehr gilt dies für die Zeit nach dem Stonewall-Aufstand im New York des Jahres 1969.
Genauso traten Feministinnen gemeinsam mit der Lesben- und Schwulenbewegung für Gleichheit und Gleichberechtigung ein. So manch eine, die damals dabei war, geht heute als Oma gegen Rechts wieder auf die Straße.

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Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung führt vor Augen, dass gleiche Rechte nicht von oben gewährt werden. Sie werden von unten erstritten. Gleichheit, die keine abstrakte Gesetzesformel ist, bildet sich im praktisch Gesellschaftlichen: als Gleichheit, die in Vielheit gründet; als egalitäre Praxis, die darin liegt, in aller Verschiedenheit als Gleiche angesehen und behandelt zu werden.
Universalismus von unten
In den CSD-Paraden blitzt ein Universalismus von unten auf, der daran erinnert, was uns trotz aller Verschiedenheit eint: dass wir als soziale Wesen der Sorge und Solidarität bedürfen, dass wir in selbst gewählten Beziehungen leben und uns entfalten wollen.
Seit einiger Zeit wird in liberalen Feuilletons und bisweilen sogar in linken Zeitungen der Universalismus hochgehalten und in einen unüberwindbaren Gegensatz zur „woken“ Identitätspolitik gerückt. Häufig wird den verschiedenen Identitätspolitiken dabei pauschalisierend unterstellt, sich auf besondere Interessen und bloße Befindlichkeiten von Minderheiten zu kaprizieren, etwa der Queers. Es werde Cancel-Culture betrieben, statt das große Ganze in den Blick zu nehmen.
Oft geht dies mit einem Plädoyer einher, man müsse zu traditionellen Themen des Klassenkampfs zurückkehren und den Gedanken des Allgemeinen wiederbeleben. In dieser starren, irreführenden Gegenüberstellung erscheint die Idee des Universellen unvereinbar mit Identitätspolitiken.
Gleichheit braucht Vielfalt
Es ist wichtig und richtig, in Zeiten, in denen autoritäre Akteure die Menschenrechte abräumen wollen, am Gedanken des Universalismus festzuhalten. Doch wir können Universalismus nicht ohne Differenz denken, denn gelebte Gleichheit braucht demokratische Vielfalt. Queere Bewegungen haben sich stets für mehr Gleichheit eingesetzt. Deshalb sind sie egalitär und universalistisch. Sie kämpfen für die eigenen Rechte ebenso wie für die Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung aller.
Wenn Linke Universalismus als Gegenprogramm zu Wokeness bestimmen, um so gegen autoritäre Kräfte anzutreten, dann werden CSDs als identitätspolitischer Nebenschauplatz abgetan.
Das verkennt vollends die Manöver von AfD, Orbán, Trump und anderen Antidemokraten. Sie machen sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung zum Kampfplatz, um von dort aus die demokratische Gesellschaft als Ganzes anzugreifen.
Sie streben nicht bloß danach, die Selbstbestimmung einiger weniger auszuhebeln, sie wollen das Prinzip an sich abschaffen – für Frauen, Jüd*innen, armutsbetroffene Menschen, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationsgeschichte, kurzum für die Mehrheit. Um diesen Großangriff auf freies Lebens zu verschleiern, ja, perfider noch, um ihn als Mehrheitsmeinung gegen angeblich übermächtige Minderheiten zu framen, setzen sie auf Sündenbockrhetorik, auf eine Art negative Intersektionalität.
Transfeindlichkeit dient als Schleusenöffner
Davon zeugt die Verschwörungsideologie des „großen Austauschs“, die antisemitische Erzählmuster von herbeifabulierten Eliten mit antimuslimischem Rassismus und antifeministischen Ressentiments verflicht. Ebenjene Elite, so der wirre, aber wirkmächtige Spin, trachte danach, weiße christliche Familien durch migrantische zu ersetzen, in Komplizenschaft mit Queers und Feministinnen.
Weil Rechtsextreme auf das gesamtgesellschaftliche Unwissen über die Lebenswirklichkeit von trans Menschen setzen können, dient Transfeindlichkeit als Schleusenöffner, um alte Muster der sexuellen Moralpanik in eine neue Fassung zu bringen. Etwa, wenn sie angesichts von queeren Lebens- und Liebesweisen Kindeswohlgefährdung unterstellen.
In Neuruppin zum Beispiel wollten rechte Gruppen so CSD-Veranstaltungen verbieten lassen. Diese Instrumentalisierung des Kinderschutzes ist bis ins bürgerliche Spektrum hinein anschlussfähig. Unterdessen kürzen viele Kommunen queerpolitischen Demokratieprojekten die Gelder.
AfD und extrem rechte Akteure trachten danach, queere Menschen als das Andere der Gesellschaft und der Demokratie darzustellen, wenn sie von „woker Diktatur“ raunen, wenn Nachwuchsnazis wie einst ihre Väter in den Baseballschlägerjahren geifernd und gewaltbereit „Weiß, normal, hetero!“ brüllen. Doch Queers sind nicht das Andere der Demokratie. Wir sind gelebte Demokratie.
„Kanarienvögel der Demokratie“
Der Linke-Politiker Klaus Lederer hat kürzlich auf einem Stadtfest in Berlin-Neukölln von queeren Menschen als „Kanarienvögeln der Demokratie“ gesprochen. Damit spielte er auf die Bergarbeiter früherer Jahrzehnte an, die die kleinen Vögel mit in die Grube nahmen. Wurde der Sauerstoff knapp, hörten die Vögel auf zu zwitschern: ein Warnsignal, das das Überleben aller sicherte. Im Testflug für die Demokratie flattern wir voran. So klein und fragil Kanarienvögel wirken, so leuchtend bunt, lautstark, so schwirrend flink sind sie. Wie umherschwärmende Kanarienvögel lassen die Prides die Straßen bunter werden. Sie sind mehr als ein Warnzeichen. Sie sind antifaschistischer Widerstand.
Der Rechten dient Antifeminismus als gemeinsamer Nenner mit evangelikalen Netzwerken, Libertären und völkischen Nationalisten. Was wäre nun, wenn die Demokrat:innen den Queerfeminismus als antifaschistisches Bindeelement begriffen? Wenn wir Selbstbestimmung, egalitäre Sorge und das gute Leben für alle als geteilte Grundlage antifaschistischer Kämpfe erachteten? Als Grundlage, die über die bloße Verteidigung des Bestehenden hinausweisen würde.
Wir sehen schon neue, kraftvolle Formen solch eines Antifaschismus. Die Omas gegen Rechts machen es vor, genauso wie die queeren Initiativen in Bad Freienwalde, Falkensee, Wittenberg und andernorts. Sie spielen keine kampfbereiten Heldenfiguren nach vorne, sondern bauen auf antifaschistischer Sorge auf.
Das zeigt sich in großen und kleinen Aufgaben von der Demoanmeldung über die Breitstellung von Wasser, Müsliriegeln, Sonnenmilch und Regenbogenschirmen bis hin zum Schutz, den Antifagruppen vor Ort bieten. Solche antifaschistischen Schutznetze gibt es vielerorts seit der Gewalt der Baseballschlägerjahre der 1990er. Nun werden sie gestärkt und weitergesponnen.
Es sind nicht alle auf Verbotslinie
Und auch in der Politik sind nicht alle auf Verbotslinie. Die Regenbogenfahne weht vielerorts wie vor dem bayerischen Landtag. Der Grüne Omid Nouripour und die Sozialdemokratin Josephine Ortleb gehören dem Bundestagspräsidium an und eröffnen den Berliner CSD. Götz Herrmann, Bürgermeister von Eberswalde, ging beim dortigen CSD auf die Bühne und dankte den Protestierenden dafür, dass sie die Stadt in ihrer Vielfalt bewahren.
Vor lauter Ohnmachtsgefühl mag der Rückzug ins Private verlocken. Doch Faschismus macht nicht an der Haustür halt. Zwar bedroht er die einen mehr als die anderen, doch er will nicht weniger, als das demokratische Leben umzuwälzen. Er nährt sich von Angst und Vereinzelung. Dagegen hilft, das Miteinander zu stärken. Queere Menschen machen seit Langem vor, wie dies gelingen kann.
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