Debatte Wissenschaft: Skrupellose Akquise von Drittmitteln

Forschungsergebnisse für Geld, Zitierkartelle, mundtot gemachte Konkurrenten: Das deutsche Wissenschaftssystem liefert keinen Kompass mehr.

Hinter diesen Mauern lauert das Grauen: Korruption und Mobbing sind Forschungsalltag. Bild: view7/photocase.com

Der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems, ökologische Krisen und neue Seuchen – das sind nur einige der Herausforderungen, vor denen die globale Gesellschaft steht. Auf diese Herausforderungen braucht es Antworten. Doch diejenigen, die die Antworten geben müssten, sind dazu kaum noch in der Lage: die Wissenschaften. Das ist dramatisch.

Denn die globale Gesellschaft ist angewiesen auf belastbare Normen und Kenntnisse, auf einen Kompass, um gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuorientierungen umsichtig und vertrauensvoll in Angriff nehmen zu können. Der Kompass fehlt.

65, ist Mediziner, Hochschullehrer und Vorstandsmitglied von Transparency International Deutschland. Von 1994 bis 2009 saß er für die SPD im Deutschen Bundestag. Eine Langversion dieses Textes erschien unter dem Titel "Transparenz in Forschung und Lehre" in dem Buch "Solidarische Bildung. Crossover: Experimente selbstorganisierter Wissensproduktion", Hg. Institut Solidarische Moderne, VSA-Verlag 2012.

Was uns einst als gesellschaftlich notwendige, unabhängige Wissensproduktion, als eine Suche nach Wahrheiten und guten Wegen viel Wert war, wird heute deformiert von den Interessen jener, die dafür viel zu zahlen bereit sind. Auch staatliche Hochschulen zeigen eine zunehmende Empfänglichkeit und Abhängigkeit von Geldmitteln, die direkt aus der Wirtschaft kommen oder die nach wirtschaftlichen Interessen verteilt werden. Dies ist politisches Programm. Und es ist ein Programm mit gravierenden Folgen.

Die von Saatgutmonopolisten bezahlten Studien zum Kampf gegen Hunger in der Welt, die Sicherheitsgutachten mancher Kernkraftanlagen oder haltlose Expertisen der Weltgesundheitsorganisation haben viele Menschenleben gekostet und Milliarden öffentlicher Gelder in die Kassen der Verantwortlichen geleitet. Wissenschaftler müssen unabhängig sein.

Solche, die durch affirmative Publikationen, unkritische Auftragsforschung oder als skrupellose Drittmittelakquisiteure kritische Forschungsansätze verdrängen, erschweren die Orientierung bei ökologischen oder sozialen Krisen und drohenden Katastrophen. Es gibt zu viele von ihnen. Im Ernstfall sind sie für die Gesamtgesellschaft wertlos.

Die Hochschule von heute gewöhnt jedoch ihre Studierenden ab dem ersten Semester an dieses Modell. Die auf Effizienz getrimmte Hochschule und ihre Studiengänge bieten kaum Zeit und Anreize, sich querdenkerisch zu orientieren, um so später durch eigene Wachsamkeit unerwarteten Herausforderungen gerecht zu werden. In der akademischen Karriere folgen befristete Arbeitsverträge, leistungsabhängige Besoldung und ein existenzieller Wettbewerb. Konkurrenzdruck ist ein Gefühl, das die meisten Akademiker heute verbindet.

Aber auch die Unterdrückung von vom Sponsor nicht erwünschten Ergebnissen sorgte zuletzt immer wieder für Schlagzeilen. Der Einfluss der Geldgeber hat längst den Blickwinkel von WissenschaftlerInnen in vielerlei Weise verändert.

Eine Forschung, die auf Ökologie und Nachhaltigkeit oder auf die Interessen der Natur und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft setzt, hat sich weder in der Politik noch an den Hochschulen ausreichend durchsetzen können. Saatgutmonopolisten wie der Monsanto-Konzern kontrollieren dagegen inzwischen weltweit den Mainstream der agrarbiologischen Forschung.

Durch einseitige Forschungsförderung und Diskreditierung von kritischen WissenschaftlerInnen kommt es zu folgenschweren Fehlentwicklungen im gesamten Forschungssektor.

Die Verzerrungen in diesem Wissenschaftsbereich, der immerhin einmal den Anspruch formulierte, den Hunger in der Welt zu bekämpfen, dauern bereits über einige Jahrzehnte an. Unter dem Einfuss der Industrie hat sich die Agrarforschung ähnlich bereinigen – richtiger wäre: verschmutzen – lassen wie die Agrarflächen, auf denen die patentierten, gentechnisch veränderten Saaten platziert werden.

Eine kritische Bewertung der Entwicklung im Bereich der Agrarbiologie ist unter diesen Umständen nur in wissenschaftlichen Nischen möglich. WissenschaftlerInnen müssen die Konzerne um Erlaubnis fragen, wenn sie ihre Forschungsergebnisse über genetisch verändertes Saatgut veröffentlichen wollen. Diese sind dann per Definition nicht mehr unabhängig.

Auch auf dem Feld der Energiepolitik haben sich deutsche Hochschulen – und die Politiker, die dies ermöglichten und tolerierten – in die Tasche stecken lassen. Deutsche Regierungen haben nicht gegengesteuert und ausgeglichen, sondern die mächtigen Konzernen auch noch mit Steuergeldern bedient. Die staatliche Förderung der Steinkohle betrug im Zeitraum von 1950 bis 2008 insgesamt etwa 330 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum wurde auch die Kernenergie mit 165 Milliarden Euro staatlich gefördert.

Von den 1950er bis Mitte der 1980er Jahre stiegen die Forschungsausgaben des Bundes für Nuklearforschung von jährlich um die 200 Millionen Euro bis auf weit über eine Milliarde Euro an, während die Forschungsausgaben für die Nutzung erneuerbarer Energien erst seit 1970 überhaupt erkennbar wurden und bis heute kaum die 300-Millionen-Euro-Grenze erreichen. Und das, obwohl sich die Techniken zur Nutzung regenerativer Energie in den letzten zehn Jahren als einer der stärksten Wachstumsimpulse für unsere exportorientierte Wirtschaft erwiesen haben.

Dass „Gesundheit“ als ein „Wachstumsmarkt“ gilt, hört man seit Jahrzehnten besonders von jenen, die davon leben, dass es Kranke und Hilfsbedürftige gibt. Ein öffentliches Interesse daran, die Bevölkerung mit so wenig Ressourcen wie nötig so gesund wie möglich zu halten und deshalb etwa gesundheitsförderliche Lebenswelten zu erforschen, ist in Deutschland nicht in Mode.

Stattdessen werden von MedizinerInnen und PharmazeutInnen im Dienst von Warenanbietern Krankheiten erfunden, Normwerte verschoben, Impfkampagnen inszeniert, folgenlose diagnostische Maßnahmen verortet und Menschen mit Angst- und Werbekampagnen in die Arztpraxen, Hospitäler und Apotheken getrieben. Die Wissenschaft trägt dazu bei.

Forschung und Lehre an den medizinischen Fakultäten wird weitgehend von AkademikerInnen orchestriert, die gleichzeitig als ExpertInnen auf der Lohnliste der Gesundheitsindustrie stehen. Gleiches gilt für die obligatorischen Fortbildungen, die überwiegend von Gesundheitskonzernen finanziert werden und wie die meisten medizinwissenschaftlichen Kongresse längst zu anspruchsvollen Marketingshows umfunktioniert wurden.

Im Ergebnis konzentriert sich die pharmazeutische Forschung vor allem auf die Schaffung neuer Märkte: Eine chronisch kranke, möglichst langlebige Klientel, wie sie in Industriegesellschaften zunehmend vorzufinden ist, ist ihre Lebensgrundlage.

Na und? In Deutschland nimmt die von der Industrie induzierte Forschung weiterhin zu. Verlässliche quantifizierbare Daten hierüber gibt es allerdings nicht. Für eine verantwortungsvolle Forschungs- und Bildungspolitik wäre es wichtig, die Forschungsschwerpunkte einzelner Industriezweige auch quantitativ überschauen zu können. Deshalb ist vor allem mehr Transparenz erforderlich.

Es braucht dringend ein transparentes Register für Forschungsmittel in Deutschland. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie dieses Register aussehen könnte, wer es betreiben sollte und wie dessen Daten öffentlich gemacht werden sollten.

Deutschland sollte auch – wie andere Länder es bereits getan haben – den Straftatbestand des Wissenschaftsbetrugs bei Irreführung oder Verfälschung von wissenschaftlichen Ergebnissen oder Daten einführen und ernsthaft verfolgen.

Um Fehlentwicklungen zu verhindern und mehr Transparenz in Forschung und Lehre zu bringen, müssen die Tatbestände der Vorteilsannahme und der Bestechlichkeit in der Forschungslandschaft weiter konkretisiert werden. ExpertInnen, die materielle oder finanzielle Abhängigkeiten zu Herstellern oder Sponsoren haben, müssen sachliche Begünstigungen beziehungsweise die finanzielle Größenordnung öffentlich machen. Sie sind von der Berufung in normsetzende Gremien auszuschließen und dürfen nicht in staatlichen Beratungs- oder Beschlussgremien mitentscheiden. Sie dürfen nur als nicht stimmberechtigte Teilnehmer von Anhörungen fungieren.

Das sind nur drei Maßnahmen. Es sind kleine Maßnahmen. Es sind wichtige Maßnahmen. Und wir brauchen sie längst.

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