Die Wahrheit: Obdachlosenoptimierung

Obdachlosen gibt man Geld und bekommt dafür ein gutes Gewissen. Das System, das sie auf die Straße brachte, endet dort nicht.​

Wenn Sie Ihre Füße vom fußbodenbeheizten Walnuss­parkett auf den kalten Steinboden deutscher Innenstädte setzen, um zu Ihrem präferierten Falafelladen zu laufen, begegnen Sie zwangsläufig den Menschen, deren Lebensraum Sie gerade betreten haben: Obdachlose. Zumindest mir passiert das regelmäßig, sodass ich mich mittlerweile in der Lage sehe, eine Besonderheit dieser Spezies, neben ihrer Obdachlosigkeit, ausmachen zu können.

Der Grund, warum einen Obdachlose ansprechen, ist und bleibt stets der gleiche: Geld soll aus meiner Tasche in die löchrige des Gegenübers wechseln, und nein, das stellt für mich kein Problem dar. Mache ich mich schon mal auf den schwierigen Weg zum Falafelladen, bin ich in der Regel bestens drauf und spendiere gerne! Doch an dieser Stelle sei allen Obdachlosen einmal ins Ohr geflüstert, auf dass sie es sich merken: Bitte erzählt mir nicht eure gesamte Lebensgeschichte!

„Entschuldigung, darf ich Sie kurz stören?“, wird das Gespräch meist begonnen und bevor man erwidern kann: „Nein, meine hart erarbeitete Falafellust soll jetzt bitte nicht durch ihr Leid geschmälert werden!“, wird einem alles an Rückschlägen, die der arme Tropf bis dato einstecken musste, langwierig erzählt.

Ein Arbeitsunfall ist der Anfang vom Leid. Eine Palette fällt ungünstig und trifft sein Knie, wodurch der Mann arbeitsunfähig wird und seinen Job verliert. Aha, o. k. Obwohl das ja ganz so nicht stimmt. Der Anfang ist eigentlich eine Depression, die ihn erst so unachtsam werden lässt, dass es zum Palettenunfall kommt. Und weiter? Dann hängt er nur noch zu Hause herum, kann ja nichts machen. Arbeit ist unmöglich und Lust rauszugehen, sich an den schönen Seiten des Lebens zu erfreuen, danach steht ihm auch nicht gerade der Sinn.

Logisch, dass sich seine Frau deshalb ziemlich schnell von ihm scheiden lässt und die Kinder mitnimmt, klar. Dann wird ihm auch noch plötzlich die Miete erhöht und heute, na heute freut sich eben jemand anderes über die schöne, geräumige Wohnung. Hm, ja, schon blöd. Jetzt lebt er seit mittlerweile vier Jahren auf der Straße und ich bekomme langsam das Gefühl, er will mich auffordern, sein Biograf zu werden.

Aber das wäre ja Quatsch. Leute, die da wortwörtlich auf der Straße stehen, lesen keine Biografien. Und deshalb: Liebe Obdachlose! Bitte behandelt dieses Zusammentreffen als das, was es ist: ein Geschäft. Man gibt Geld und bekommt dafür ein gutes Gewissen. Das System, dass euch auf die Straße brachte, endet hier doch nicht.

Übrigens: Ich bin nun durch einen Unfall seit vier Jahren arbeitsunfähig. Meine Miete kann ich nur knapp zahlen. Das einzige Einkommen erziele ich durch das Schreiben meiner Leidensgeschichte. Schön, dass Sie diese gelesen haben und ich ein wenig Geld dafür erhalte. Mögen Sie ein gutes Gewissen bekommen.

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kari

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