Die Wahrheit: Mmmh, Schmackofatz!

In Kassel-Kirchditmold heißt es Futtern wie bei Muttern.

„Vor dem Essen, nach dem Essen: Hände waschen nicht vergessen!“ – „Nicht mit vollem Mund sprechen!“ – „Schmatze nicht!“ – Gebote, die wohl jeder aus seiner Kindheit kennt, zieren die Wände in „Mutters Küche“, einem Gasthaus in Kassel-Kirchditmold, das vor wenigen Wochen eröffnet hat. Die Tische sind jeden Mittag gut besetzt.

„Vor allem Familien kommen gern zu uns“, erklärt Geschäftsführer Hartmut Ledderhose (54), der gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und alten Sandkastenliebe Birgit Schindewolf die Idee hatte, aus der Erinnerung an das Essen wie bei Muttern eine neue Form der Gastronomie zu entwickeln. „Aber auch junge Leute, die wissen wollen, wie es früher war, alleinstehende Männer mittleren Alters und sentimentale Senioren zählen zu unseren Gästen.“

Ungewöhnlich ist, dass auf allen Tischen in der Gaststätte dasselbe Gericht steht. „Sie können bei uns selbstverständlich bestellen, was Sie wollen“, erläutert Ledderhose. „Aber gegessen wird, was auf den Tisch kommt! Hier kriegt keiner eine Extrawurst gebraten.“

An einem Tisch sitzt ein einsamer Gast, stiert auf seinen halbvollen Teller und stochert lustlos im Essen herum. Eben will er aufstehen, da eilt ein Kellner herbei, drückt ihn auf seinen Stuhl zurück und redet eindringlich auf ihn ein, nicht ohne den Zeigefinger zu heben. „Bei uns“, verrät Ledderhose, der meinem Blick gefolgt ist, „steht der Gast erst auf, wenn der Teller leer ist! Unser Kellner, mein alter Klassenkamerad Volker Schaumlöffel, passt auf. Die anderen Gäste an dem Tisch“, fährt Ledderhose fort, „sind natürlich längst fort und spielen draußen. Äh, pardon“, verbessert er sich, „sind längst wieder im Büro.“

„Was ist denn heute das Tagesmenü?“ – „Salzkartoffeln von gestern und aufgewärmtes Kalbfleisch, mit etwas ausgelassener Butter für die Kartoffeln. Dazu ein schöner labbriger Salat. Resteessen. Wir werfen nichts weg! Als Nachtisch Erdbeerkompott. Hat noch meine selige Mutter vor sechs oder sieben Jahren eingeweckt!“, zeigt sich Ledderhose stolz, dass die Wegwerfgesellschaft bei ihm keine Chance hat.

„Am liebsten macht meine Birgit, die in der Küche steht, weich gekochte Spiralnudeln mit Tomatenmarksoße und reingeschnippelter Wiener. Gern auch in Fett schwimmende Schnitzel“, erzählt Ledderhose. „Wenn sie keine Zeit hat, müssen es aber schon mal Ravioli aus der Dose sein.“ – „Und Makkaroni?“ – „Selten. Sie wissen, das gibt jedes Mal eine Schweinerei bei Tisch. Neulich musste unser Kellner einem Jungen sogar eine kleben! Der hat schon mit Absicht das Tischtuch eingesaut und sein Hemd bekleckert, aß wie ein Schwein! Und wissen Sie was? Hinterher hat seine Mutter dem Kellner richtig viel Trinkgeld gegeben.“

Auf Tischmanieren wird in „Mutters Küche“ viel Wert gelegt. Nicht, dass vorher unbedingt ein Tischgebet gesprochen werden muss. „Kann, nicht muss“, beschwichtigt Ledderhose. Aber Kinder, die durch die Gänge zwischen den Tischen jagen, den Gästen zwischen den Beinen herumkriechen und mit ihrem Geschrei jede vernünftige Tischunterhaltung unter erwachsenen Menschen verhindern, gibt es hier nicht. Alle sitzen anständig am Tisch – und wenn nicht, wird eingegriffen: „Sitz gerade!“, ermahnt Kellner Schaumlöffel gerade einen alten Mann und weist, als der schon „Du hast mir gar nichts zu sagen!“ erwidern will, mit einem wortlosen Nicken auf die Fensterbank, wo ein langer, dünner Stock liegt.

Es gehört sich, so die ungeschriebene Philosophie des Hauses, dass die Gäste dem Personal zur Hand gehen und ein wenig Arbeit abnehmen. Gerade deckt ein Jugendlicher für seine Familie den Mittagstisch. „Die Mädchen müssen hinterher beim Abwasch helfen“, verdeutlicht Ledderhose. „Schließlich … Moment!“ Mit raumgreifenden Schritten eilt Ledderhose an einen Tisch. „Man spielt nicht mit dem Essen!“, rüffelt er eine Frau, die aus den zermatschten Kartoffeln auf ihrem Teller eine kleine Burg zu bauen begonnen hat. Und als sie zu maulen anhebt: „Die Kinder in Äthiopien wären froh, wenn sie Kartoffeln essen dürften!“

Essen wie bei Muttern früher: ein Trend mit Zukunft? „Wir hoffen, unser Konzept zu einer Systemgastronomie auszubauen“, zeigt sich Ledderhose zuversichtlich und begibt sich zu einem Gast, um zu kassieren. Offensichtlich hat es ihm geschmecket, er rülpset und furzet. Indes – statt Geld reicht er dem Geschäftsführer einen Überweisungsschein. „Wir sind“, klärt Ledderhose auf, „als therapeutische Einrichtung anerkannt. Einige Krankenkassen übernehmen die Bewirtungskosten, wenn ein ärztliches Attest bescheinigt, dass Traumata aus Kindheit und Jugend hier abgearbeitet und überwunden werden sollen. Meine Frau und ich“, fährt er fort, „sind allerdings gesund. Wir essen beim Griechen oder Italiener.“

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