Gewalt gegen Kinder: Wie sicher ist die Familie?

Wenn in Deutschland Kinder ermordet werden, sind fast immer die Eltern die Täter. Die einzige gute Nachricht: Die Anzahl dieser Morde sinkt.

Das Bild zeigt ein Fenster während der Nacht. Im Lichtschein ist eine Person in einem weißen Ganzkörperanzug zu sehen

Polizisten der Spurensicherung untersuchen im Oktober 2015 das Haus des Mörders Silvio S Foto: dpa

Wenn Christian Pfeiffer auf seine neuen Daten über Kindstötungen schaut, dann sieht er gute Nachrichten. Seit 1993 ging die Zahl der Kinder die durch die eigenen Eltern getötet wurden um 54% zurück. Den Hauptgrund dafür sieht Pfeiffer in einem veränderten Familienbild. Misshandlungen werden weniger, stattdessen gibt es mehr Zuneigung. Eltern verstünden ihre erzieherische Aufgabe heute anders. „Die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts war dafür sehr wichtig“ sagt der ehemalige Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

Wenn Kindern ermordet werden, dann sind es fast immer die Eltern. Laut Angaben des Bundeskriminalamts wurden im Vorjahr 54 Kinder Opfer von Mord oder Totschlag. In 76 Fällen sind Kinder an Misshandlungen gestorben oder wurden fahrlässig getötet. In mehr als 90 Prozent der Fälle waren die Täter ein Eltern- oder Stiefelternteil, das ist eines der Ergebnisse der KFN-Studie, die im nächsten Frühjahr vorgestellt werden soll.

Die Untersuchung zeigt auch, dass Kinder nur noch sehr selten von Fremden getötet werden. Einer dieser Fälle waren die Morde an dem vierjährigen Jungen Mohammed und dem sechsjährigen Elias, die der Täter in Berlin und Postdam entführt hatte. Das Landgericht Potsdam verurteilte Silvio S. am Dienstag vergangener Woche zu lebenslanger Haft. Der Vorsitzende Richter sprach von „zwei unbegreiflichen Straftaten.“

Mütter morden anders als Väter

Bei dem Prozess von Silvio S. war die öffentliche Aufmerksamkeit groß, wie oft bei Kindsmorden. Gerade wenn Eltern ihre Kinder töten, scheint das vielen Menschen unbegreiflich. Mit ihrer Studie wollen Christian Pfeiffer und seine KollegInnen auch ein besseres Verständnis für die Motive der TäterInnen gewinnen. Pfeiffer sagt, es gebe einen klaren Unterschied zwischen den Motiven weiblicher und männlicher Kindsmörder.

Wenn Neugeborene ermordet werden, sind es fast immer die Mütter. Nach Erkenntnissen des Psychiaters Michael Soyka werden in diesen Fällen Schwangerschaften häufig negiert und verdrängt oder vor dem Umfeld verborgen. Die Mütter sind dann unvorbereitet und mit der Geburt überfordert und töten das Kind innerhalb der ersten 24 Stunden erklärte Soyka im November 2015 der dpa.

Christian Pfeiffer betont, dass solche Fälle in allen sozialen Milieus vorkommen. „Da gibt es sowohl die Studentin der es nicht in den Kram passt, dass sie ihr Studium unterbrechen muss, als auch die Frau die in bürgerlichen Verhältnissen lebt.“ Gemeinsam ist den Frauen ein Gefühl der Einsamkeit und der Angst vor der Mutterrolle.

Potsdam, 2011: In einem ausgebrannten Auto werden zwei tote Mädchen entdeckt, kurze Zeit später steht der Vater vor Gericht. Aber die Mutter kann ihn nicht hassen. Die Reportage lesen Sie in der taz.am wochenende vom 6./7. August. Außerdem: Die brasilianische Polizei hat für Olympia aufgerüstet. Zu spüren bekommen das vor allem junge Dunkelhäutige in den Favelas. Und wir waren mit drei Geisterjägern in einem alten Schloss. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Bei Vätern sind die Motive überwiegend Überforderung, finanzielle Probleme, oder Eifersucht. In Fällen von erweitertem Suizid, wenn der Täter zuerst ein Familienmitglied tötet und dann sich selbst, sind die Täter überwiegend männlich. Ein typisches Grundmuster ist der Wunsch nach Rache an der Expartnerin. „Der Vater will die Frau auf immer und ewig unglücklich machen indem er ihre Kinder tötet“, sagt Christian Pfeiffer.

Seit neun Jahren forscht das Kriminologische Forschungsinstitut in Hannover zu Kindstötungen. Ein wichtiger Grund für den Rückgang der Kindsmorde sehen die WissenschaftlerInnen des Instituts im Ausbau von Hilfsangeboten, durch die Frauen während der Schwangerschaft und nach der Geburt unterstützt werden. Mit der Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts vor 16 Jahren wurde zudem ein Appell zur gewaltfreien Erziehung gesendet. Ohrfeigen, Körperverletzungen und Morde an Kindern sind seitdem parallel zurückgegangen.

Außerdem hätten sich die Einführung des Gewaltschutzgesetzes 2002 und die darauf folgenden Änderungen des Polizeirechtes positiv ausgewirkt, sagt Christian Pfeiffer. Seither können Beamte nach einer Gewalttat dem Täter das Betreten der Familienwohnung für einen bestimmten Zeitraum verbieten. Vor allem wenn Kinder an Misshandlungen sterben, wurden sie oft schon davor geschlagen. Das Gewaltschutzgesetz sei ein wirksames Mittel zur Prävention, sagt Pfeiffer.

Im Auto verbrannt

Häufig gelten die Täter jedoch als Familienmenschen und sind weder vorbestraft noch vor der Tat durch Gewalt an ihren Kindern aufgefallen. So auch im Fall von Thue Rugaard, der im Sommer 2011 mit seinen beiden Töchtern verreiste. Bei der Rückfahrt nach Dänemark parkte er sein Auto außerhalb Berlins, gab beiden Kindern eine Schlaftablette, überschüttete sich und seine Töchter mit Benzin und zündete das Fahrzeug an. Beide Mädchen wurden getötet, der Vater brach den Suizidversuch nach eigener Aussage ab. Thue Rugaard wurde in Deutschland zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Im Juli entschied ein dänischer Richter, dass er diese Strafe auch in Dänemark bekommt.

Die dänische Journalistin Line Vaaben sprach fünf Jahre nach der Tat mit beiden Eltern über ihre Beziehung und den Mord. Sie besuchte Thue Rugaard in der Haft und traf dessen Exfrau Christina Olsen in ihrem Haus in Dänemark. In der taz.am wochenende vom 6./7. August erzählt sie die Geschichte von Selbstmordgedanken, Schuldgefühlen, Wut auf den anderen Elternteil und davon wie beide Eltern den Tod ihrer Kinder verarbeiten.

Werden Kinder ermordet so handelt ein Elternteil meist alleine, ohne dass der andere davon weiß. Auch Christina Olsen hätte nie damit gerechnet, dass ihr Ex-Mann zu einem Mörder werden könnte. „Er sagte mir, ich solle aufpassen, hinter mich schauen und all so was“, erzählt Olsen über die Zeit vor dem Mord. „Ich hatte in dieser Zeit ernsthaft Angst vor ihm. Seine Wut richtete sich direkt auf mich, aber ich dachte keinen Moment daran, dass er den Kindern etwas antun könnte.“

Kindsmorde kommen nicht häufig vor, aber sie hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck, weil sie so schwer nachvollziehbar zu sein scheinen, schreibt Line Vaaben. Diese Morde forderten etwas Grundlegendes in uns heraus – die Vorstellung, dass es die erste Aufgabe von Eltern sei, ihre Kinder zu beschützen.

Was denken Sie, warum Fälle von Kindstötung so erschüttern? Liegt es daran, dass wir dadurch unser Bild von Familie als Ort der Sicherheit in Frage stellen müssen? Denken Sie, dass Kinder in Deutschland heute genügend vor Gewalt geschützt sind?

Diskutieren Sie mit!

Die Geschichte „Meine Töchter“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 6./7. August 2016.

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