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Kein Exit für Nazis!Angehörige fordern Ausschluss Zschäpes von Ausstiegsprojekt

Die inhaftierte NSU-Terroristin nimmt an einem Aussteigerprogramm für Nazis teil. Angehörige von Opfern fürchten dadurch ein vorzeitiges Haftende.

Nürnberg, 9. September 2014: Gedenken an das erste NSU-Opfer Enver Şimşek am Tatort Foto: Daniel Karmann/dpa

Frankfurt/Main taz | Die Töchter von drei Opfern des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), Semiya Şimşek, Mandy und Michalina Boulgarides sowie Gamze Kubaşık, wenden sich mit einer Petition an das Aussteigerprogramm „EXIT“ sowie an die Bundesregierung. Anlass ist die Aufnahme der verurteilten NSU-Terroristin Beate Zschäpe in das Aussteigerprogramm. Im Juli 2018 war Zschäpe wegen ihrer Beteiligung an der zehnfachen Mordserie des NSU zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt worden. Nach Informationen der taz ist sie inzwischen im Aussteigerprogramm „EXIT“ aufgenommen worden. Die Organisation selbst wollte sich dazu zuletzt „aus rechtlichen Gründen“ nicht äußern.

Die Töchter der von Rechtsextremen ermordeten Enver Şimşek, Theodoros Boulgarides und Mehmet Kubaşık fordern den sofortigen Ausschluss von Beate Zschäpe aus dem Aussteigerprogramm, solange sie ihr Wissen über den NSU nicht lückenlos offenlegt. Außerdem fordern sie umfassende Unterstützung für die Hinterbliebenen und Überlebenden der Mord- und Anschlagsserie des NSU sowie für alle Opfer rechter Gewalt, „rechtlich, finanziell, psychologisch und institutionell durch dauerhafte angemessene Opferrenten“.

Şimşek, Boulgarides und Kubaşık kritisieren zudem, dass sie erst aus den Medien von der Aufnahme der NSU-Terroristin in ein Aussteigerprogramm erfahren hätten, und äußern ihre Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Ausstiegs. Denn bis November 2026, also nach 15 Jahren Haft, entscheidet das Oberlandesgericht München über die endgültige Dauer von Zschäpes Strafe und über eine mögliche frühere Entlassung. Eine angebliche Abkehr von einer rechtsextremistischen Ideologie könnte dabei ein mildernder Faktor sein. Şimşek, Boulgarides und Kubaşık sprechen von einem „taktischen Manöver“. „Wir müssen nun erleben, wie Beate ­Zschäpe augenscheinlich dabei unterstützt werden soll, ihre Haftzeit möglichst kurz zu halten“, so die Angehörigen.

Angehörige fühlen sich im Stich gelassen

„Dieses Vorhaben ist ein Skandal“ so Mandy Boulgarides, die Tochter von Theodoros Boulgarides, der 2005 in München vom NSU ermordet wurde. Es zeige erneut, „wie dieser Staat Täter schützt, ihnen Wege öffnet und Resozialisierung ermöglicht – während wir Hinterbliebenen, Überlebenden und Angehörigen seit Jahren ignoriert, vertröstet und im Stich gelassen werden.“

Zudem habe Zschäpe keine einzige der mehr als 300 Fragen, die die Opferfamilien im Prozess an Zschäpe gerichtet hatten, bislang beantwortet. „Warum wurden ausgerechnet unsere Väter vom NSU ermordet? Wer gehörte zum NSU und dessen Netzwerk? Gab es Kontakte zu den Sicherheitsbehörden von den Mitgliedern des NSU und denen des Netzwerkes?“, so Semiya Şimşek, Mandy und Michalina Boulgarides und Gamze Kubaşık.

Auch Caro Keller vom NSU-Watch teilt die Zweifel der Angehörigen: „Es gibt Standards für den Ausstieg von Nazis. Zschäpe erfüllt keinen davon“, so Keller der taz. Sie betont, dass Zschäpe weder ihr Wissen offengelegt noch sich von rechtsextremen Strukturen distanziert habe. Im Gegenteil: Zschäpe schütze dieses Netzwerk bis heute. „Wir werfen EXIT vor, dabei mitzuwirken, Zschäpe eine möglichst frühe Haftentlassung zu ermöglichen“, so Keller.

Beate Zschäpe ging 1998 gemeinsam mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in den Untergrund und bildete mit ihnen das Kerntrio der rechtsterroristischen Neonazi-Zelle NSU. ­Zwischen 2000 und 2007 ermordete der NSU zehn Menschen – neun von ihnen aus rassistischen Motiven: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, ­Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat.

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23 Kommentare

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  • Das scheint gerade im Trend zu sein. Nicht nur Beate Zschäpe wird möglicherweise entlassen, sondern auch der Kannibale von Rotenburg und Josef Fritzl.



    Dagegen sitzen in der Haftanstalt Plötzensee ein Drittel der Insassen wegen Armutdelikten ein:



    Strafen: Jeder Dritte in Plötzensee sitzt wegen Schwarzfahrens



    www.tagesspiegel.d...hrens/1396434.html

    Ein Hoch auf die Justiz!

    • @Sabine Dettmann:

      Schwarzfahrwr sitzen aber immer nur ein paar Tage ein.

      Im Regelfall ist es eine Ersatzfreiheitsstrafe, die sie auch bezahlen könnten.

      Dass diese Leute nicht mit Schwerverbrecher zusammen eingesperrt werden, ist doch nur sinnvoll.

      Logischerweise kommen sie dann zentriert irgendwohin.

      Nehmen Sie die JVA Tegel, da haben Sie ganz andere Quoten.

      Und was soll uns Ihr Vergleich jetzt sagen?

      Dass Schwarzfahrerinnen bei Zschäpe reinkommen sollen, damit die Quote besser aussieht?

    • @Sabine Dettmann:

      Dass jemand mit einer langen Haftstrafe diese unter bestimmten Bedingungen verkürzen kann, ist kein aktueller Trend, sondern eine alte Geschichte und dient der Resozialisierung.

      Rechte finden das oft blöd und werten das gerne als Zeichen eines versagenden Staates.

  • "Die Töchter der von Rechtsextremen ermordeten Enver Şimşek, Theodoros Boulgarides und Mehmet Kubaşık fordern den sofortigen Ausschluss von Beate Zschäpe aus dem Aussteigerprogramm"



    Ich kann das persönliche Befinden der Töchter verstehen, aber unser System ist grundsätzlich auf Resozialisierung ausgelegt. Ausnahmen stellen nicht mal Menschen dar, die mit Sicherungsverwahrung verurteilt wurden, da selbst bei diesen regelmäßig überprüft wird, ob die Verwahrung noch nötig ist.



    Rache, Ausschluss aus der Gesellschaft oder andere verbannende Strafen sind bei uns nicht Vorgesehen.



    Frau Zschäpe im Aussteigerprogramm mag für Betroffene eine widerliche Vorstellung sein, aber eigentlich ist das genau dass, was Resozialisierung bedeutet.

    • @Saskia Brehn:

      Grundsätzlich haben Sie ja recht. Es bleibt aber doch die Frage, an was man einen Ausstieg aus dem Rechtsextremismus glaubhaft festmachen will. Ich kann mir da schwer eine Konstellation vorstellen, bei der Zschäpe ihre Abkehr beteuert, ihr Täterwissen aber weiterhin für sich behalten will. Diese Strategie hatte sie ja im Prinzip schon während des Prozesses verfolgt, und wenn ich das richtig sehe, bestreitet sie ja bis heute ihre Mitwirkung an den Morden.

    • @Saskia Brehn:

      Bei der Frau fehlt jede (!) Voraussetzung für eine erfolgreiche Resozialisierung.



      10 Morde erlauben keine Haftverkürzung und ja, das ist auch der Rechtsstaat.

  • Erstaunlich, wie viele Forumsposter dies völlig inakzeptabel finden. Im Archiv der taz gibt es mehr als ein halbes dutzend Artikel, die über die vorzeitige Entlassung und Resozialisierung des RAFlers Christian Klar sehr positiv berichten, und das Forum war da auch voller Unterstützung. Christian Klar hat sich ausdrücklich niemals von seinen Taten distanziert, und er hat auch keinerlei Aussagen zu seinem Komplizen gemacht, also noch weniger mit der Justiz und sonstigen Behörden zusammen gearbeitet als Zschäpe. Zweierlei Maß?

  • Warum werden eigentlich immer Frau Kiesewetter und ihr Kollege Herr A. (lebt mit einer Kugel im Kopf) bei der Opferaufzählung des NSU vergessen?



    Was den möglichen Ausstieg von Frau Zschäpe angeht: zum Ausstieg gehört auch das Auspacken. Ob sie dies getan hat oder nicht, wissen wohl nur die Behörden (BKA, Verfassungsschutz etc...) Die Öffentlichkeit wird dies, wenn überhaupt, nur mit starker Verzögerung erfahren. Vielleicht, wenn die zuständigen Richter entscheiden, ob sie 2026 aus dem Gefängnis entlassen wird oder nicht.

  • Ich denke grundsätzlich sollte jedem geholfen werden, der/die aufrichtig aus der rechtsextremen Szene aussteigen möchte.



    Bei Frau Zschäpe sind jedoch an diesem aufrichtigen Sinneswandel erhebliche Zweifel angebracht.



    Dass sich EXIT hier dafür misbrauchen lässt, eine vorzeitige Haftentlassung zu erzielen, ist bedauerlich.

    • @TeeTS:

      Ist nicht das erste mal und bei Exit eher die Regel, denn Ausnahme. Ein öffentliches Aus

  • Ich möchte mich der Forderung der Angehörigen anschließen. Ja das Rechtssystem ist auf Resozialisierung ausgerichtet, wie ich denke zu Recht. Mörder*innen mit dem menschenverachtendem Hintergrund , sollten jedoch hiervon ausgenommen sein. Ich hoffe Exit schließt sich dieser Auffassung an.

    • @Jutta Kodrzynski:

      "Mörder*innen mit dem menschenverachtendem Hintergrund , sollten jedoch hiervon ausgenommen sein."



      Welcher Mord ist denn bitte nicht menschenverachtend? Gibt es für Sie 'gute' und 'schlechte' Morde?

      • @Saskia Brehn:

        Es gibt den Straftatbestand "Mord aus besonders niedrigen Motiven" und ja, es gibt Differenzierungen bei Mord.

        • @Angelika70:

          Unterschiedliche Ausgangssituationen, dennoch ist beides Mord.

          Und macht ein Mord dem anderen Mord nicht besser.

          Beispiel:



          "Mord aus besonders niederen Motiven" darunter können folgendes Fallen: Erbschaft, Verschleierung einer Straftat u.s.w.



          Ein Mord an einem Kind zum Beispiel muss nicht "aus niederen Beweggründen" sein ist aber genau so widerlich wie die o.g. Fälle.

          Wenn wir bei Ihrer Aufzählung schon sind: es gibt noch den "Totschlag".

  • Nazis zu verweigern, an einem Ausstiegsprogramm für Nazis teilzunehmen, wäre etwas paradox. Natürlich gehört dann für eine erfolgreiche Teilnahme allerdings auch dazu, Wissen preiszugeben.

    Einen Einfluss auf das Strafmaß hat das Programm ja hoffentlich nachträglich nicht.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Woher nehmen Sie die Informationen, dass ein 'Auspacken' ausgerechnet bei 'Exit' zum fachlichen Standard eines Ausstiegs gehören würde? Spoiler: Gehört es nicht und gehörte es auch noch nie, weshalb so ziemlich alle seriösen antifaschistischen Initiativen 'Exit' boykottieren.



      Und es tut mir Leid, ihnen auch noch eine Hoffnung nehmen zu müssen: Genau das: ein Einfluss auf das Strafmaß, ist gemeinhin die Folge, wenn verurteile Neonazis sich die Teilnahme an einem 'Aussteigerprogramm' bescheinigen lassen - so steht es auch in dem Beitrag.



      Manchmal wäre es zielführender, bevor man hier anderen, die sich mit der Materie auskennen (NSU-Watch z.B.) Paradoxien vorhält, selber überprüft, inwiefern man hier bzgl. der Praxis dieses und anderer 'Aussteigerprogramme' in der BRD einer realitätsfremden Idealvorstellung erlegen ist. Denn offensichtlich haben Sie sich weder mit dem Modell 'Exit', dessen Standards und der seit 30 Jahren bestehenden Kritik daran befasst.

  • Die Angehörigen der Opfer sind natürlich befangen und fordern selbstverständlich die höchstmögliche Strafe. Völlig nachvollziehbar.



    EXIT und der zuständige Haftrichter sollten sich aber genau anschauen, ob Zschäpe wirklich aus dem Rechtsextremismus aussteigen will, oder einfach nur eine Hafterleichterung oder -verkürzung anstrebt, das Ganze also nur Mittel zum Zweck ist.



    Natürlich würde es ihr helfen, wenn sie die Fragen der Angehörigen beantworten würde, also aktiv die Geschehnisse aufklären würde. Gleichzeit steht ihr als Beschuldigte aber auch das Recht zu, sich nicht selbst zu belasten.



    Grundsätzlich muss Zschäpe wie jeder Straftäter auch eine Perspektive auf Freiheit haben, wenn auch in vielen Jahren, die Menschenwürde gilt auch für sie. Diese Chance zu nutzen ist ihre Aufgabe. Die Aufgabe der zuständigen Stellen ist die genaue Prüfung. Fatal wäre es, wenn sie frei käme und dann eine Märtyrerstellung in der Naziszene einnähme.

  • Ist das was Frau Zschäpe macht nicht genau der richtige Schritt in die Resozialisierung? Die Glaubwürdigkeit müssen Experten bewerten.

    • @Zven:

      Behaupten kann man viel wenn es einem nützt. Auch Experten haben keine Gehirnscanner mit denen sie ihre wahren Intentionen erkennen können. Mithilfe bei der Aufklärung des NSU Komplexes, die Fragen der Hinterbliebenen zu beantworten, wäre hingegen etwas handfestes.

  • Ich bin entschieden dagegen, dass Frau Zschäpe die Möglichkeit erhält ihre Haftzeit zu verkürzen. Die NSU Mordserie ist an Menschenverachtung nicht zu überbieten gewesen.

  • Vollkommen inakzeptabel, wie EXIT dazu kommt, Zschäpe ins Programm aufzunehmen.



    Solange sie schweigt und nichts oder wenig zur Aufklärung des NSU-Komplexes beiträgt, solange kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich von ihrer faschistischen Idiologie getrennt hätte.



    Wer so im Untergrund gelebt, kann sich nicht mit Nichtwissen herausreden.

  • Ich dachte, dass unseres Strafrecht auf Resozialisierung ausgelegt ist. Wenn Sie sich ändern will, sollte Ihr auch die Chance dafür gegeben werden. Das bedeutet nicht eine vorzeitige Freiassung.

    • @Filou:

      Artikel gelesen? Knackpunkt ist die Tatsache, daß sie nach wie vor Verbindungen und Informationen aus der Zeit verschweigt und so weiter aktiv dafür sorgt, dass wesentliche Teile des sog. "NSU Komplexes" im Dunklen bleiben. Da kann doch von Einsicht oder gar Läuterung keine Rede sein.