Kolumne German Angst: Die Neigungsdeutschen

Empathiefähigkeit? Die reicht genau bis an die eigene Türschwelle und hat höchstens so Schrebergartenradius. Was bleibt, ist das Ressentiment.

Kleine Männchen, großes Ressentiment Bild: ap

Es gibt da so ein Zitat, nach dem ich seit Längerem suche. Es geistert in meinem Kopf herum, aber ich kann mich einfach nicht an den Wortlaut erinnern. In etwa geht es aber so: Die Deutschen sollten einmal pro Woche weinen, um klarzukommen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Unter den „Deutschen“ verstehe ich keine Abstammungs- oder Schicksalsgemeinschaft. Sondern eine Gruppe von Menschen, die in diesem Fall verbunden sind durch einen limitierten Gefühlshaushalt, ihre selektive Empathie. Neigungsdeutsche. Solche, die eben nicht einmal in der Woche weinen – egal wie traurig alles ist.

Seit einer guten Woche etwa ist die Stimmung gegenüber Flüchtlingen aufgeschlossen, mitfühlend. Nur sehr wenige würden dagegensprechen, mehr Menschen in Deutschland aufzunehmen und neue Unterkünfte einzurichten. Zumindest öffentlich. Und generell.

Herzen hinter Frontex-Mauern

Es gibt also auch bei Todesfällen so etwas wie eine kritische Masse, ab der das Herz derer, die hinter den Frontex-Mauern der EU leben, erweicht wird. Wie lange diese Zugewandtheit wohl anhalten wird? Vermutlich nicht lange. Wird die Debatte nämlich konkreter, hat sich auch nach 1.000 ertrunkenen Menschen nichts geändert.

Und komischerweise betrifft das genau jene, die mehr Flüchtlinge aufnehmen wollen, für Mare Nostrum sind und gegen Frontex. Eigentlich. So im Allgemeinen. Aber konkret, in der eigenen kleinen Welt?

– Klar, die armen Menschen, aber kommen die jetzt in die Stadt? Dahin, wo wir wohnen? Mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis vor die Tür, mit eigener Küche, eigenem Bad gar? Hallo? In Berlin herrscht jetzt schon Wohnungsnot. Und wie lange habe ich nach einer schönen Wohnung gesucht? Eigentlich waren die Massenunterkünfte jwd, in der brandenburgischen Pampa, ja ganz okay …

Ja, so selektiv ist die Empathiefähigkeit. Sie reicht genau bis an die eigene Türschwelle. Hat so Schrebergartenradius.

Der Arsch ist ihnen näher als der Kopf

Ich muss dabei irgendwie an das Referendum zur Schulreform in Hamburg denken. Über Jahre waren sich alle einig, dass das auf Ausschluss aufbauende dreigliedrige Schulsystem wegmüsse. So hatten es sich die Grünen zu eigen gemacht. Stadtteilschulen: Selbstverständlich!

– Und dann kippte genau deren Wählerschaft die Reform. Warum? Weil ihnen der Arsch näher ist als der Kopf – und das Herz. Weil gleiche Möglichkeiten für alle nur okay sind, wenn die eigenen Privilegien gesichert bleiben. So schnell gehen politische Ideale flöten, die Moral oder ganz einfach Menschlichkeit.

Was bleibt, ist das Ressentiment. Das ist auch ein großes Gefühl, vielleicht sogar das größte unserer Zeit. Eine emotionale Aufwallung, irgendwie total fehlgeleitet, kurz vor dem Mitgefühl falsch abgebogen eben.

Ob das alles anders wäre, wenn die Deutschen einmal die Woche weinen würden? Ich bin mittlerweile auf das Zitat gestoßen, das ich gemeint haben könnte. „Wenn ich Deutscher wäre, würde ich jede Woche eine Stunde weinen“ – das hat der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk gesagt. Kaniuk war kein Deutscher. Er hätte es wohl auch nie werden können.

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Vollzeitautorin und Teilzeitverlegerin, Gender- und Osteuropawissenschaftlerin.

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