Netanjahus Überlebenstechniken: Der Staat bin ich
Netanjahu beantragt Begnadigung durch Präsident Herzog im Korruptionsprozess. Der Schritt wäre der endgültige Untergang der Rechtsstaatlichkeit Israels.
N etanjahus Antrag auf Begnadigung durch Präsident Herzog ist der nächste Schritt im Kampf der israelischen Regierung gegen Rechenschaftspflicht und Rechtsstaatlichkeit. Der Antrag, der von den Ministern der Koalition als „notwendig für die öffentliche Ordnung“ unterstützt wird, wurde von US-Präsident Donald Trump bereits im Vorfeld mehrfach lautstark unterstützt.
Im Juni bezeichnete Trump das juristische Vorgehen gegen Netanjahu als „Hexenjagd“. In seiner Rede vor der Knesset im Oktober forderte er Herzog auf: „Komm schon, begnadige ihn.“ Trump wies die schweren Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu zurück – „Wen interessiert das schon?“ – und schickte im November sogar einen Brief an Herzog, in dem er ihn offiziell um die Begnadigung Netanjahus bat.
Der israelische Präsident hat zwar die Befugnis, Personen zu begnadigen, die eines Verbrechens angeklagt oder verurteilt wurden; doch in der Geschichte Israels gab es bislang nur wenige solcher Begnadigungen. Die vielleicht berühmteste Begnadigung war die von Schin-Bet-Beamten, die wegen Vertuschung des Mordes an zwei Palästinensern vor Gericht standen, die nach der Entführung eines Linienbusses in Tel Aviv belangt worden waren. Als Bedingung gaben die Beamten ihre Schuld zu, traten zurück und wurden anschließend von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen.
Es gab aber noch nie Begnadigungen wegen Korruption. Im Jahr 2008 trat der Likud-Premierminister Ehud Olmert zurück, weil er wegen Korruption angeklagt war, wofür er später eine Gefängnisstrafe verbüßte. Er war der ranghöchste ehemalige israelische Politiker, der zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, was damals als Sieg der israelischen Rechtsstaatlichkeit galt. Als das Urteil im März 2014 verkündet wurde, sagte der vorsitzende Richter David Rozen: „Ein Beamter, der Bestechungsgelder annimmt, ist einem Verräter gleichzusetzen.“ Olmerts Nachfolger wurde 2009 Netanjahu, der zehn Jahre später wegen Bestechung, Betrug und Untreue angeklagt wurde.
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Aus Gründen
Nach dreijährigen Ermittlungen wurde Netanjahu 2019 angeklagt, der Prozess begann offiziell im Mai 2020. Im Dezember 2024 sagte Netanjahu zum ersten Mal aus und war damit der erste amtierende israelische Ministerpräsident, der während seiner Amtszeit vor Gericht stand. Sechs Monate später begann das Kreuzverhör vor dem Bezirksgericht Tel Aviv. Netanjahu hat jedoch wiederholt beantragt, die Anhörungen zu verschieben oder zu verkürzen – aus Gründen, die von Unwohlsein über diplomatische Treffen bis hin zu „Sicherheitsfragen“ reichen – Anträge, denen die vorsitzenden Richter merkwürdigerweise weiterhin stattgeben. Es wurden bislang noch keine Zeugen vernommen.
Netanjahu beharrt darauf, dass eine Begnadigung ihm eine bessere Regierungsführung ermöglichen würde. Er erwähnt weder ein Schuldeingeständnis noch seinen Rücktritt aus dem öffentlichen Amt, was beispiellos ist. Mittlerweile kann sein Antrag fast als Gnadentod für das quälend langsame Tempo seines Strafprozesses angesehen werden. Die Zurückhaltung der zuständigen Richter, Netanjahu zur Aussage zu zwingen, könnte damit erklärt werden, dass sie nicht offenbaren wollen, wie machtlos sie sind. Was würde das Gericht tun, wenn Netanjahu ihre Anordnung einfach ignorieren würde?
Es scheint, dass die Mitglieder der israelischen Justiz entweder mit Netanjahu und seiner Koalition zusammenarbeiten oder Angst vor ihnen haben, ebenso wie vor der „Giftmaschine“ – einer Armee von Trollen, Demonstranten und professionellen Agitatoren –, die gegen jeden eingesetzt werden kann, den sie als Feind identifizieren. Zu den jüngsten Opfern dieser Giftmaschine gehört die ehemalige Militärstaatsanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi, die Berichten zufolge wegen der unerbittlichen Schikanen gegen sie über Selbstmord nachgedacht hat.
Fakt ist, dass der Oberste Gerichtshof Entscheidungen trifft, die seine eigene Autorität aktiv untergraben. Kürzlich entschied er, Justizminister Levin zu gestatten, den vorsitzenden Richter für den Prozess gegen Tomer-Yerushalmi zu bestimmen. Levin verachtet den Obersten Gerichtshof offen: Im Februar erklärte er, dass er den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Isaac Amit, „nicht anerkennt“ und initiierte einen „Boykott“ gegen ihn. Levin ignorierte auch das Urteil des Obersten Gerichtshofs, das besagte, dass er und seine Koalition nicht befugt sind, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu entlassen, und erklärte, er werde auch sie „boykottieren“.
Ausschreitungen im Gerichtssaal
Ende November stürmten rechtsgerichtete Demonstranten eine Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof und beschimpften die Richter, die daraufhin die Anhörung unterbrachen und den Saal räumen ließen. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Amit, sagte, er kenne „kein demokratisches Land, in dem es zu solchen Ausschreitungen im Obersten Gerichtshof kommt“. Manchmal werden Gerichtsverhandlungen sogar von rechtsgerichteten Knesset-Ministern unterbrochen, die dann aus dem Saal verwiesen werden müssen.
Nachdem Anfang Oktober das Waffenstillstandsabkommen für Gaza verkündet worden war, traf Netanjahu die Entscheidung, den Krieg zwischen Israel und der Hamas in „Krieg der Wiederbelebung“ (milchemet tkuma) umzubenennen. Ein Krieg, der das Land verwüstet, Gaza zerstört, die IDF erschöpft und Israel zu einem internationalen Paria gemacht hat, wurde für Netanjahu und seine Koalition tatsächlich eine „Wiederbelebung“. Abgesehen davon, dass sie keine Verantwortung für die Tragödie vom 7. Oktober übernahmen, bot ihnen der Krieg die Gelegenheit, ihre innenpolitische Agenda umzusetzen.
Militärbeamte, die zum Israel vor der „Wiederbelebung“ gehörten, sind zurückgetreten oder wurden im Rahmen der von IDF-Stabschef Eyal Zamir – der im Februar persönlich von Netanjahu eingesetzt wurde – durchgeführten Säuberungsaktion entlassen. Ronen Bar, der ehemalige Chef des Geheimdienstes Schin Bet, wurde im März durch Netanjahus Vertrauten David Zini ersetzt, der seine Unterstützung für den Gesetzentwurf zur Todesstrafe bekundete und sich damit über die traditionelle Ablehnung der Todesstrafe seitens des Schin Bet hinwegsetzte.
Rücktritt wäre Wunder
Der ehemalige Premierminister Naftali Bennett, der mit einer eigenen rechten Partei für die Wahlen 2026 kandidiert, sagt, er unterstütze eine Begnadigung, wenn Netanjahu von seinem Amt zurücktrete. Netanjahus Rücktritt wäre allerdings ein Wunder – nachdem er Israel nach seinen Vorstellungen umgestaltet hat, ist es unwahrscheinlich, dass er jemals freiwillig gehen wird.
Eine Begnadigung von Premierminister Netanjahu würde das untergraben, was von der Rechtsstaatlichkeit in Israel noch übrig ist. Netanjahu und seine Koalition haben den Staat Israel und seine Institutionen zerstört. Selbst wenn „Bibi“ irgendwann aus dem Amt scheidet, wird es lange dauern, den Schaden zu beheben, den er und seine Koalition der Polizei, der Justiz und der Einstellung der israelischen Gesellschaft zur Rechtsstaatlichkeit zugefügt haben.
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