Neues Album von Leon Vynehall: Überfahrt ins Ungewisse

Ambient, Streicher, Piano – und Migration: „Nothing Is Still“ heißt das neue Album des gefeierten britischen Produzenten Leon Vyne­hall.

Musiker Leon Vynehall mit gebeugtem Kopf

Denker- oder Produzentenpose? Leon Vynehall Foto: Phil Sharp

Eine sanft und leicht versetzt pochende Bassdrum setzt die dünne Haut in Bewegung, unter der sich die Loops aneinander vorbeischieben, überschneiden, gegenseitig auslöschen. In dem Stück „Drinking It In Again (Chapter IV)“ arrangiert der britische Musiker Leon Vynehall Synthesizer, Field Recordings, schwingende Percussion und Vocal-Samples zu einer einnehmenden Komposition. Am Ende wehen die Klänge eines Saxofons durch feinkörniges Rauschen hindurch ans Ohr.

Vynehalls Album „Nothing Is Still“, in dessen Mitte das Stück platziert ist, ist ein ambitioniertes Werk. Nicht nur musikalisch strebt Vynehall Vielschichtigkeit an. Der Musikproduzent aus England hat sein Debütalbum multimedial angelegt. Das ist konsequent, wenn man bedenkt, dass die Musik von Vynehall auch früher häufig über sich hinausgewiesen hat.

„Music For The Uninvited“ von 2014, eine Veröffentlichung, die mit sieben Tracks zwischen EP und Album steht, landete bei einflussreichen Musikmagazinen in jenem Jahr in den Bestenlisten.

Inspiration für die Stücke darauf, die von komplexer Electronica und introvertiertem Ambient bis zu optimistischem House reichen, waren sonische Erinnerungen seiner Kindheit wie die Kassetten, die der Brite als Kind im Auto seiner Mutter zu hören bekam und das Videospiel „The Legend Of Zelda: Ocarina Of Time“. Musik ist bei Leon Vynehall selten nur funktional. In den Stücken stecken Geschichten, so wie sie bei ihm Musik werden, drängt er sie den HörerInnen nie auf, sie klingen eher beiläufig.

Leon Vynehall: „Nothing Is Still“ (Ninja Tune/ GoodToGo).

Die Story der Großeltern

Den Text zu „Nothing Is Still“ gab es noch vor der Musik: in dem bisher nur auf Englisch veröffentlichten Buch „Nothing Is Still“, das Leon Vyne­hall zusammen mit Max Sztyber verfasst hat. Ganz am Anfang standen aber Fotos: Als sein Großvater vor vier Jahren gestorben war, sprach Vyne­hall mit seiner Großmutter über seine und ihre Erinnerungen.

In den 1960er Jahren wanderten Stephanie und Derick Smith aus England aus und suchten nach ihrem American Dream. Sie lebten einige Jahre in New York City, bevor sie nach Großbritannien zurückkehrten. Diesen Abschnitt im Leben seiner Großeltern möchte Vynehall mit „Nothing Is Still“ erzählen, durch Musik, Bilder und mit Worten.

Der Ansatz dabei ist künstlerisch-fiktionalisierend, weniger dokumentarisch. Vynehall und Sztyber skizzieren in neun Kapiteln auf poetische, manchmal sprunghafte Weise aus der Sicht der Großmutter Momente der Überfahrt, Erfahrungen der Ungewissheit, Zuversicht, persönliche Katastrophen wie eine Fehlgeburt und den Entschluss zur Rückkehr nach England.

Der Text vermittelt komplexe Gefühlswelten, in denen Skepsis und das Gefühl von Einsamkeit auf Euphorie und Lust auf Neues treffen. Die Erzählerin sucht nach Antworten, nach ihren eigenen Wünschen. Immer wieder äußert sich das auch im Blick auf die Beziehung zu ihrem Mann, in Deutungsversuchen seines Verhaltens.

US-Geschichte der 1960er

Versatzstücke US-amerikanischer Geschichte zeichnen am Rand außerdem ein Bild von den USA der 1960er Jahre. Im vierten Kapitel, „Drinking It In Again“, auf September 1964 datiert, reflektiert die Erzählerin das Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen. Ausgangspunkt ist das wütende Verhalten ihrer schwarzen Arbeitskollegin, nachdem deren Bruder bei Riots in Harlem von einem Polizisten ins Koma geprügelt worden war.

Vynehall markierte Worte oder Passagen des Textes und entwickelte daraus Klänge und Arrangements. Die vielen feinen Wirbel, aus denen dichte Wellen von Sounds entstehen, passen gut zu den Worten der Erzählung.

Clubmusik taucht dabei nur als Stilmittel auf, es dominieren Kompositionen ohne Beat, melancholische, elektronisch produzierte Ambient-Stücke mit Streich-Arrangements und Piano-Melodien. Es ist ein Kraftakt, der literarisch, musikalisch und filmisch präsentiert wird.

Ein Kampf mit sich selbst, mit anderen, mit Ereignissen, die die Geschichte der Welt oder die eigene nachhaltig prägen. Unter der dünnen Haut der Oberfläche können Stürme entstehen, entfesselt, beängstigend. Aber wenn es gut läuft, gibt es Menschen, die in den Sturm hineinsprechen. Die Knoten des eigenen Lebens können sich mit denen des anderen verbinden und zu einem neuen, oberflächlich ruhig pulsierenden Ganzen werden wie die Musik auf „Nothing Is Still“.

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