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Russische Sprache in der UkraineVerständlich, aber unklug

Kommentar von

Barbara Oertel

Russisch soll in der Ukraine seinen Schutzstatus verlieren. Der Schritt könnte angesichts der vielen Russischsprachigen im Land nach hinten losgehen.

Das war einmal: „Es lebe die große sowjetische Freundschaft!“, sowjetisches Plakat in ukrainischer (oben) und russischer Sprache Foto: Elizaveta Becker/akg images

W er verstünde nicht, dass viele Ukrai­ne­r*in­nen nach knapp 1.400 Tagen vollumfänglicher russischer Invasion mit Abscheu, ja abgrundtiefem Hass reagieren, wenn sie die Sprache des Aggressors hören. Doch ob ein Gesetzentwurf der Regierung, der seit Kurzem dem Parlament vorliegt, eine politisch kluge Entscheidung ist, darf bezweifelt werden.

Dem Vorschlag zufolge, der bereits im Dezember vergangenen Jahres auf dem Tisch lag, soll das Russische in der Ukraine von der Liste besonders zu schützender Minderheitensprachen gestrichen werden. Dem steht jedoch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates entgegen, die in der Ukraine seit dem 1. Januar 2006 in Kraft ist. Und nicht nur das: Auch Artikel 10 der ukrainischen Verfassung stellt die russische Sprache – neben anderen – explizit unter den Schutz des Staates.

Es ist nicht das erste Mal, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung etwas zu kreativ mit ihren Rechtsgrundsätzen umgehen. Erinnert sei an den Versuch, im Sommer zwei Antikorruptionsbehörden auf Linie zu bringen. Das Vorhaben scheiterte. Auch der jetzige Verstoß ist juristisch anfechtbar, wirft jedoch noch andere Fragen auf.

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Das gilt umso mehr, als Sprache in der Ukraine ein Politikum und seit dem 24. Februar 2022 umstrittener ist denn je. Auch wenn viele etwas anderes behaupten: Es ist nicht willkommen, aber keineswegs verboten, in der Ukraine Russisch zu sprechen. Diskriminierung mag es geben, aber sie ist kein Massenphänomen. Russisch ist die Muttersprache jedes dritten Ukrainers, jeder dritten Ukrainerin. Von ihnen steht ein Großteil für das Land ein.

Warum die Regierung gerade jetzt Handlungsbedarf sieht, erschließt sich nicht. Die Initiative könnte zudem nach hinten los gehen: Die Gesellschaft dürfte weiter polarisiert werden, der Kreml bekommt eine weitere Steilvorlage für seine Propaganda. Braucht die Ukraine das? Nein, es gibt weitaus wichtigere Probleme: Der nächste Winter steht vor der Tür.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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23 Kommentare

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  • Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass Wladimir Putin 2022 in wenigen Wochen das geschafft hat, woran die ukrainischen Nationalisten zuvor drei Jahrzehnte lang gescheitert waren: Ein landesweites ukrainisches Nationalbewusstsein zu schaffen. Es ist das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft derer, die von der russischen Armee bombardiert werden, ganz gleich welcher Sprache sie sich im Alltag bedienen. Diese Gemeinschaft aber wird durch eine Abwertung des Russischen gewiss nicht gestärkt, sondern geschwächt.

    Außerdem würde dadurch eine Reintegration der russisch besetzten Gebiete in den ukrainischen Staat erschwert, selbst wenn das - in einer Zeit nach Putin? - irgendwann politisch möglich schiene.

  • "... der Kreml bekommt eine weitere Steilvorlage für seine Propaganda."

    Das ist nach dreieinhalb Jahren brutaler russischer Angriffe und Bombardierungen nun wirklich kein Argument mehr.

  • Selenskyjs/ Selenskis Muttersprache ist Russisch; Ukrainisch hat er erst spät gelernt, wie viele Ukrainer. Seine Comedy-Truppe "Kwartal 95" trat bis Anfang 2022 auf Russisch auf, was ihrem ukrainischen Patriotismus keinen Abbruch tat. In "meiner" Schule sind viele Flüchtlingskinder aus der Ukraine. Sie sprechen fast alle Russisch.



    Es ist verständlich, wenn man zur Zeit in der Ukraine möglichst nichts Russisches sehen oder hören will. Aber es wäre schön, wenn die Ukraine doch entdecken würde, daß die russische Sprache nicht nur die Sprache Putins bzw. Moskaus ist, sondern auch zu ihr gehört. Orte wie Odessa waren russischsprachig, seit es sie gibt. Wichtige Werke der russischen Literatur stammen von Autoren aus der Ukraine. Und wie will man den Anspruch auf verlorengegangene Gebiete wie Donbass und Krim aufrechterhalten, wenn man die Sprache der dortigen Bewohner nicht achtet? Es geht nicht nur um den Schutz einer Minderheit; mit der russischen Sprache würde sich die Ukraine von einem Stück ihrer selbst trennen.

  • Selenski ist letzten Endes das Sprachrohr der Rechten und Rechtsextremen, von denen der Wunsch nach der Unterdrückung der russischen Sprache eigentlich kommt.

    Es geht und ging denen nie um so etwas wie Demokratie und gleichberechtigtes Zusammenleben, sondern um Nationalismus, Dominanz, Zugehörigkeit zu "den Starken" und dergleichen.

    Das ist nicht erst seit heute so und hat auch mit dem Krieg nichts zu tun.

    • @Uns Uwe:

      Immerhin hat die Ukraine kein Nachbarland überfallen. Vor solchen "Rechten und Rechtsextremen" habe ich weniger Angst als vor russischen Soldaten.

    • @Uns Uwe:

      Ich weiß nicht, ob es hilft, das Phänomen auf Rechte und Rechtsextreme zu verweisen.

      Wenn Ukrainer "zu den Starken " gehören wollen, müssten sie ja gerade Russisch sprechen wollen.

      In Osteuropa hatten nach dem 2. Weltkrieg auch alle keine Lust mehr auf Deutsch als Erst- oder Zweitsprache.

      Und das waren sozialistische Länder.

      Ich kann das verstehen.

      Mein Vater hatte einen Freund im Elsass, der als Kind während des Krieges seinem älteren Bruder im Wald Nahrung brachte.

      Der versteckte sich dort, damit er nicht in die Wehrmacht muss.

      Irgendwann kaschten den Jungen die Deutschen und haben ihn sehr unschön behandelt, um zu erfahren, wo sein Bruder ist.

      Danach hat er in seinem Leben nie wieder Deutsch gesprochen.

      Was nicht leicht ist, wenn das gesamte Umfeld es tut.

      Auf der theoretischen Ebene lässt sich super über sowas moralisch urteilen.

      Auf der menschlichen kann das ganz anders aussehen.

  • es gibt in der Industrie die sogenannte SWOT-Analyse bei Planungen. dabei werden die ...







    S - Strengths Stärken



    W - Weaknesses Schwächen



    O - Opportunities Chancen



    T - Threats Risiken







    gegeneinder abgewogen.



    Das sollte eigentlich bei Selensky & Co bekannt sein.



    Wahrscheinlich überdeckt von Ignoranz und Wut und Hass(?)

  • "Es ist nicht das erste Mal, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung etwas zu kreativ mit ihren Rechtsgrundsätzen umgehen. Erinnert sei an den Versuch, im Sommer zwei Antikorruptionsbehörden auf Linie zu bringen"



    Immerhin wurde das Vorhaben nach Einspruch der Zivilgesellschaft abgeändert?



    Kann ja nicht überall so gut laufen wie bei uns, wo der Handlanger der Frau vom Bundeskanzler Hausdurchsuchungen bei der politischen Konkurrenz durchführen lässt, der letzte Bundeskanzler nicht mehr weiß, ob er Millionen an Steuergeldern einer kriminellen Bank geschenkt hat, ein weiterer fließend in eine Ölautokratie wechselte, der Fraktionvorsitzende der Regierungspartei seinen guten Freunden Aufträge während einer Pandamie zuspielt, sich gleichzeitig von guten Freunden eine Millionenvilla kreditieren lässt, seine Parteikollegen während und mit Corona ganz legale Geschäfte (weil nicht mit Bundestags-Briefkopf) machten. Ach ja und Cum-Cum und Cum-Ex komplett straffrei blieben und BIS HEUTE weitergehen, was doch erstaunlich ist.



    Und das ist nur was einem auf die schnelle Einfällt.

  • Verständlich, aber unklug.



    Wir wollen, dass die Ukraine bald gewinnt und sich nicht mit aktuell abwegigen Themen verzettelt.



    Für mich passt das aber ins Bild: Die Ukraine führt keinen Defensivkrieg auf eigenem Territorium mehr, sondern greift in Kursk und im russischen Hinterland an, obwohl ihr die Mittel für eine sichere Defensive des eigenen Territoriums fehlen. Auch das ist irrational, eine Verschwendung, die das gewünschte Ergebnis unwahrscheinlicher macht.

    • @Hans - Friedrich Bär:

      Nach meinem bescheidenen Eindruck brilliert das Moskauer Regime auch nicht gerade bei der Verteidigung der Heimat.



      Höchste Zeit für den Bunkeropa, seinen Feldzug abzubrechen.



      Oder sehen Sie das anders, Herr Bär?

    • @Hans - Friedrich Bär:

      Ich würde mir nicht zutrauen, taktische Entscheidungen der ukrainischen Kriegführung so eindeutig zu bewerten. Angriffe im Hinterland des Gegners können selbstverständlich Bestandteil einer wirksamen Verteidigung sein

  • Ich unterstelle mal frech: gerade WEIL es so drängende Probleme gibt, wird jetzt auf dem Sprachthema rumgeritten, um davon etwas abzulenken. Ein bissl wie die Konservativen mit ihrem Gender-Verbot in Deutschland 😅

    • @vøid:

      Es wird nicht "jetzt" darauf herumgeritten. Die Sprachenfrage beschäftigt die Ukraine seit dem Februar 2022 sehr stark, und sie war auch die Jahre davor immer ein Thema.

  • Vielleicht auch Verhandlungs-"Chips" sammeln?



    Auch sind die russischsprachigen Ecken - die übrigens vor 35 Jahren auch mehrheitlich für die ukrainische Unabhängigkeit stimmten - größtenteils in Putins Klauen.



    Allgemein aber sollen wohl alle eine Art Ukrainisch zumindest verstehen können, aber die Muttersprache ändert man nicht mit Ruck. Das russische Fernsehprogramm muss dann noch attraktiver sein als das des Bösen Wolfs. In zwei Generationen kommt Ukrainisch schon von alleine. Und wenn dann jemand auch Russisch kann, umso besser.

    • @Janix:

      "Vielleicht auch Verhandlungs-"Chips" sammeln?"

      Wer die eigenen Regierungsgebäude nicht vor Feindeinwirkung schützen kann, hat verloren.

      Wer immer Russland auf russischem Territorium angegriffen hat, hat verloren.

      • @Hans - Friedrich Bär:

        "Wer immer Russland auf russischem Territorium angegriffen hat, hat verloren."



        Siehe hierzu auch den Vertrag von Brest-Litowsk, 1918. Hört sich für mich nicht nach Verlieren an.

    • @Janix:

      Zu den "russischsprachigen Ecken" gehört auch Krywyj Rih/ Kriwoi Rog, die Heimatstadt Selenskyjs. Selbst in Kiew war bis vor kurzem die Umgangssprache der Bevölkerung zu großen Teilen Russisch.

  • Nicht nur unklug, sondern nicht EU-kompatibel! Polen hat das Deutsche als Minderheitensprache ja auch nicht freiwillig akzeptiert, sondern das war eine der Bedingungen (sicherlich mit Nachdruck von der deutschen Diplomatie) für die EU-Aufnahme.

    Man muss aber wissen, dass im slavischen Raum Sprache und Nation enger miteinander verbunden sind als in Westeuropa. Das gewollte Auseinanderdriften der Sprache in Tschechien und der Slovakei, oder zwischen Kroatien und Serbien sind nur zwei Beispiele, wie Nationalstaaten sich im nachhinein durch sprachliche Abgrenzung definieren.

  • Die Ukraine braucht wieder einmal Wahlen. Kriegsrecht bedeutet faktisch, den Staat und die Gesellschaft autokratisch zu führen. In der Ukraine eine demokratische Kultur, gerade auch unter den politischen und gesellschaftlichen Eliten - Stichwort Korruption, Nepotismus -, nur ungenügend verankert. Auch zahlreiche Handlungen Selenskyis weisen darauf hin (Defizite in der Korruptionsbekämpfung, Umgang mit politischen Gegegnern, Einschränkungen der Medienfreiheit, Postenbesetzungen, Transparenz bei Einkommen und Vermögen u.a.), dass er das Kriegsrecht offensiv und auch zum Vorteil seines Machtzirkels einsetzt.



    Generell Sprachverbote, hier besonders die Diskriminierung der russsischsprachigen oder russischsprachig sozialisierten Bevölkerung sind kontraproduktiv und deuten auf ein autoritäres Gesellschaftssverständnis hin.

    • @Meinungsäußerung:

      Russland hat letztes Jahr gewählt. Das Land blüht und gedeiht. Oder habe ich da etwas nicht mitbekommen?

    • @Meinungsäußerung:

      Was eine "gewachsene demokratische Kultur" wert ist, sieht man gerade in den Vereinigten Staaten. Verglichen mit dem, was Trump derzeit veranstaltet, ist die Ukraine eine sehr lebendige Demokratie, jedenfalls in Anbetracht der Umstände. Alles, was im obigen Beitrag beschrieben wird, findet in den USA statt, ohne daß Krieg herrscht, aber unter weidlicher Ausnutzung von Notstandsbefugnissen.

  • Ja, das Ganze lässt sich tatsächlich so zusammenfassen: dumm.



    In mehr als einer Hinsicht.

    • @Encantado:

      Rational unbegründet, aber vielleicht braucht die Moral eine Stärkung. Aber ob das dafür die geeignete Massnahme ist?