Sozialstaat vs. Aufrüstung: Wer Zeitenwende sagt, muss auch Mietendeckel sagen
Seit der Invasion der Ukraine lebt Deutschland mit einer Lebenslüge: Wenn nur genug Geld da ist, dann tut Veränderung niemandem weh.
V ier Zimmer, Küche, Bad. Wer in einer Großstadt ein Zuhause finden will, weiß, wie schwierig die Suche ist nach etwas, das eigentlich kein Luxus sein sollte: eine bezahlbare Wohnung. Hunderte Familien bewerben sich auf dasselbe Angebot, und jetzt kommt eine weitere, mächtige Konkurrenz hinzu. Die Bundeswehr will ihre Grundstücke zurück.
Vier Stuben, Gulaschkanone, Latrine, heißt es dann. Interesse? Es werden noch Freiwillige gesucht.
Es geht um 200 über das Land verteilte Grundstücke, viele waren längst anderweitig verplant. In Heidelberg sollen auf dem Gelände einer US-Kaserne eigentlich Sozialwohnungen entstehen. Vor den Toren Münchens drohen Bauprojekte mit 10.000 Wohnungen zu scheitern. Zehntausend! Und in Bielefeld fürchten Basketballer um ihren Trainingsplatz in einem alten Hangar. Denn die Bundeswehr braucht Platz. Für Kasernen, für die Musterung neuer Soldaten, und nicht zuletzt, um all die schönen neuen Geräte regensicher unterzustellen.
Seit der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende ausgerufen hat, lebt Deutschland mit einer Lebenslüge. Sie lautet: Wenn nur genug Geld da ist, dann gibt es keinen Konflikt zwischen Sozialstaat und Aufrüstung. Dann tut Veränderung niemandem weh.
Mit dem Sondervermögen der Ampel nach der russischen Invasion in der Ukraine und dem noch größeren Schuldenberg der schwarz-roten Koalition sollten Verteilungskonflikte einfach zugeschüttet werden wie eine Baugrube. Doch die Zahl der Grundstücke ist endlich, daran kann kein Geld der Welt etwas ändern.
Eine ehrliche Debatte wurde lange vermieden
Nach einem ähnlichen Muster – politische Konflikte vermeiden, bis es nicht mehr geht – lief zuletzt die Debatte über die Wehrpflicht. Die Bundeswehr braucht mehr Soldaten. Woher sie kommen sollen, ist unklar. SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius setzt auf Freiwilligkeit, die Union auf Zwang, und der Kompromiss hieß: Losverfahren. Die Empörung war groß, die Regierung verkrachte sich einmal mehr.
Dabei hilft es nicht, darauf zu verweisen, dass Länder wie Dänemark oder Schweden mit einem (etwas anderen) Losverfahren doch gute Erfahrungen machen. Denn die Deutschen haben ein anderes Verhältnis zu ihrem Staat und seiner Armee. Und damit ist nicht nur das Erbe der Wehrmacht gemeint.
Wer wie in Skandinavien in einem funktionierenden Sozialstaat lebt, eine funktionierende öffentliche Infrastruktur genießt und dank eines streng regulierten Wohnungsmarkts eine bezahlbare Wohnung bekommt, ist womöglich eher bereit, seinem Land zu dienen. Deutsche dagegen werden bei einem Zwangsdienst skeptisch: Warum sollte ich Deutschland dienen, was hat Deutschland je für mich getan?
Eine ehrliche Debatte darüber, was die neue Sicherheitslage bedeutet, was der Staat von seinen Bürgern verlangen kann – und was die Bürger im Gegenzug von ihrem Staat –, beginnt gerade erst. Sie wurde lange vermieden, aus Angst vor der eigenen Bevölkerung.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein funktionierender Sozialstaat mit bezahlbaren Wohnungen und eine funktionierende Bundeswehr, das muss beides möglich sein. Und weil der Platz für Neubauwohnungen und Kasernen nun einmal begrenzt ist, heißt das: Wer Zeitenwende sagt, muss auch Mietendeckel sagen, muss sich auch Umverteilung trauen.
Sonst wird immer die Akzeptanz in der Bevölkerung fehlen, für jede Form der Transformation. Und genug Soldaten wird man so auch nicht finden. Die Bundeswehr sollte auf Grundstücke verzichten, auf denen Wohnungen geplant sind. Das dürften ruhig auch mal der Kanzler und sein Verteidigungsminister sagen.
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